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Fundstücke im Bilderwust. Von William Boyd antiquarisch erstandene Schnappschüsse namenloser Menschen von namenlosen Fotografen. Der Roman tut so, als hätte seine Heldin Amory Clay die Aufnahmen gemacht.

© aus dem besprochenen Band

"Die Fotografin" von William Boyd: Wirren der Notlösung

Das Jahrhundert im Schnelldurchgang: William Boyd hat mit „Die Fotografin“ von Neuem eine Biografie erschwindelt.

Er liebt das Spiel mit erfundenen Biografien. Man kann nie sichergehen, ob es die Spione oder Künstler in William Boyds Büchern wirklich gegeben hat. Da hilft manchmal nur googeln. Den schönsten Coup in dieser Hinsicht landete der 1962 in Ghana geborene britische Autor mit „Nat Tate“ aus dem Jahr 1998. Mit großem Brimborium wurde die Lebensgeschichte des verkannten Malers Tate damals im Atelier von Jeff Koons vorgestellt; David Bowie las Passagen aus Boyds Buch, und die New Yorker Kunstschickeria, die sich keine Blöße geben wollte, konnte sich plötzlich an den Vergessenen erinnern.

Einige besonders Vorwitzige warteten sogar mit rührenden Anekdoten über ihre Begegnungen mit Nat Tate auf. Ein schönes Experiment zur Überprüfung der Wirkmacht von Literatur. Figuren, wenn sie nur glaubhaft genug sind, können durchaus ins wahre Leben hinüberdiffundieren. Das Spiel mit historischer Faktizität und Fiktion verweist auf Grundfragen des Autors Boyd: Wie das Erzählte inmitten einer vermeintlichen Realität seinen eigenen Wahrheitsraum schaffen kann, wie Erfundenes das verborgene Wirkliche ans Licht bringt, wie der Autor seine Figuren undercover im Text agieren lässt – und wie sich so verschiedene Ebenen überlagern und verbinden.

Ein Kriegstrauma macht den Vater zum Wrack

Zum vierten Mal erzählt Boyd nun in seinem neuen Roman „Die Fotografin“ eine solche erschwindelte Biografie – diesmal aus weiblicher Perspektive und in Form einer chronologischen Rückschau, die unterbrochen wird von Tagebuchaufzeichnungen der Ich-Erzählerin. „Die vielen Leben der Amory Clay“ heißt das Buch im Untertitel. Amory wird 1908 geboren; ihr Vater ist ein Schriftsteller von bescheidenem Erfolg, dessen Kriegstrauma ihn zu einem psychischen Wrack macht. Das führt so weit, dass er an einem schönen Sommertag nicht nur sich selbst, sondern auch seine Tochter umbringen möchte.

Amory geht fortan ein wenig skeptischer durchs Leben, allerdings verfolgt sie umso forscher ihr Berufsziel: Sie möchte Fotografin werden, ein Feld, auf dem seit den zwanziger Jahren ja einige Frauen von sich reden machten, von Marianne Breslauer über Lee Miller bis zu Diane Arbus.

So ein Kaliber ist Amory allerdings nicht, auch wenn Boyd uns das glauben machen will. Sie stolpert irgendwie bemüht durch ihre Zeit, durch ein paar Liebesgeschichten und findet sich dabei immer wieder an neuralgischen Schauplätzen des 20. Jahrhunderts wieder. Im Berlin der frühen 1930er Jahre lernt sie die verruchten Etablissements kennen – daraus entsteht ihre erste, einen Skandal auslösende Ausstellung. Mitte der 30er Jahre wird sieFotoreporterin einer amerikanischen Agentur und ist dabei, als die faschistischen Schwarzhemden um Oswald Mosley durch die Londoner Straßen ziehen; dabei riskiert sie sogar ihr Leben.

Fundstücke im Bilderwust. Von William Boyd antiquarisch erstandene Schnappschüsse namenloser Menschen von namenlosen Fotografen. Der Roman tut so, als hätte seine Heldin Amory Clay die Aufnahmen gemacht.
Fundstücke im Bilderwust. Von William Boyd antiquarisch erstandene Schnappschüsse namenloser Menschen von namenlosen Fotografen. Der Roman tut so, als hätte seine Heldin Amory Clay die Aufnahmen gemacht.

© aus dem besprochenen Band

Später dokumentiert sie den Vormarsch der Alliierten in der Normandie, wo sie auch ihren Mann, den schottischen Aristokraten Sholto Farr, kennenlernt. Und als der, wie ihr Vater vom Krieg aus der Bahn geworfen, sich das Leben nimmt, fotografiert sie fortan, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, für die schottische Regionalpresse auf Volksfesten und Hochzeiten. Einmal noch kümmert sie sich um die große Geschichte: Stramm auf die 60 zugehend, macht sie sich auf nach Vietnam.

William Boyd vermeidet in diesem Buch wenig von dem, was man erwartet. Er lässt seine Figur allzu viele Gemeinplätze vortragen, und was sie eigentlich antreibt, bleibt im Vagen – das liegt wohl vornehmlich daran, dass es dem Autor trotz eindrucksvoller Kulissenschieberei im Hintergrund selten gelingt, sie zum Leben zu erwecken. Nachdem Amory nach der Prügelattacke faschistischer Demonstranten von den Ärzten prophezeit wird, dass sie keine Kinder bekommen könne, arbeitet sie an einer Fotoserie. Und erklärt dem begriffsstutzigen Leser, was es damit auf sich hat: „Bei näherem Nachdenken jedoch kam mir die Vermutung, dass diese Fotos menschenleerer oder kürzlich verlassener Orte womöglich etwas mit meiner Unfruchtbarkeit zu tun hatten. Mit der Abwesenheit, die mein Leben überschattete.“

Die Stimme, die Boyd seiner Heldin zuschreibt, hat etwas merkwürdig Sachliches und Nüchternes. „Schon erstaunlich, wie klaglos wir uns im Leben mit allerlei Notlösungen abfinden. Wir humpeln dahin, bessern aus und flicken, improvisieren.“ Dass Amory auch noch durchs ganze turbulente Jahrhundert humpeln muss, macht es nicht besser. Zuweilen klingt das bei Boyd dann ziemlich hölzern: „Ich begann, mich wieder für das große Weltgeschehen zu interessieren. Ich hörte Radio, las Zeitung und erfuhr vom Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, erfuhr, dass Joe Louis Weltmeister im Schwergewichtsboxen geworden war, dass Orson Welles mit seinem Hörspiel ,Krieg der Welten’ eine Art Massenpanik ausgelöst hatte.“

Der Leser wird immerzu an die Hand genommen, damit ihm auch wirklich nichts Geschichtsträchtiges entgehen möge. Und so rast die Zeit „wie ein Rennpferd“, das „nur so über die Gerade dahinjagt“. Auf den 558 Seiten der „Fotografin“ kann sie einem allerdings ganz schön lang werden.

William Boyd hatte leider noch einen anderen Einfall, und es steht zu vermuten, dass er sogar am Anfang des Romans stand. Mehr als 70 Bilder anonymer Fotografen, die der Autor auf Flohmärkten oder via Ebay gesammelt hat, werden zur Illustration an sinnfälligen Stellen in den Text eingestreut und der Titelheldin zugeschrieben. Leider geht Boyds Täuschungsmanöver auch hier nicht auf: Die meisten dieser Schnappschüsse sind einfach schlecht, sie verraten weder eine Handschrift noch Talent. Wie Amory Clay als Fotografin überleben konnte, bleibt da ein Rätsel.

Man fragt sich am Ende, was William Boyd eigentlich erzählen wollte. Die exemplarische Geschichte einer mutigen und kreativen Frau? Bleibt leider blass. Das biografische Auf und Ab? Verkommt zum Klischee. Ein in paar Leben weniger in den Wirren des 20. Jahrhunderts hätten Amory Clay vielleicht gutgetan.

William Boyd: Die Fotografin. Die vielen Leben der Amory Clay. Roman. Aus dem Englischen von Patricia Klobusicky und Ulrike Thiesmeyer. Berlin Verlag, Berlin 2016. 558 Seiten, 24 €.

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