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Kultur: Die Frau, die Astrid hieß

Auf der Suche nach der vergangenen Zeit: Mikolaj Lozinskis Debütroman „Reisefieber“

Am liebsten möchte man nach der Lektüre dieses Romans hemmungslos schwärmen. Was für ein Debüt! Welch eine Mischung von Ernsthaftigkeit und Lässigkeit! Wie viel Raum für die Fantasie des Lesers und welch eine Reife bei einem derart jungen Autor! Und doch gehört „Reisefieber“ zu jenen Büchern, bei denen das unangemessen ist. Nicht wegen seiner traurigen Geschichte, sondern weil seine Wirkung darauf beruht, auf jeden Wirbel zu verzichten. Kein Spektakel, kein Lärm, nur die Ruhe eines geduldigen Erzählens. Man nennt so etwas gern ein „stilles Buch“. Doch das ist nur ein Behelfsausdruck. Er mutet immer etwas komisch an, weil Bücher aus Sprache gemacht sind und also niemals wirklich still sein können.

Mikolaj Lozinski erzählt die Geschichte eines komplizierten Mutter Sohn- Verhältnisses. Und er tut dies auf eine Weise, die seine Erfahrung zwingend übersteigt. Als der Roman 2006 im polnischen Original erschienen ist, war der Autor sechsundzwanzig. Zwar ist die Literaturgeschichte reich an Beispielen früher Reife, doch heute ist man eher das Gegenteil gewohnt. Adoleszenzromane aus der Feder von Thirty- oder gar Fourtysomethings sind keine Seltenheit. Dabei ist das Thema von Lozinskis Roman gar nicht weit davon entfernt. Sein Held ist achtunddreißig und reist nach dem Tod der Mutter von New York nach Paris, wo er aufgewachsen ist. Unterdessen wartet seine Freundin in New York auf einen Anruf, der, wenn er endlich kommt, nur aus Entschuldigungen, Missverständnissen und Vorwürfen besteht und so die Botschaft unterminiert, auf die es eigentlich ankäme: dass man die Schrecknisse des Lebens gemeinsam bestehen will. Anna hofft schon seit langem, Daniel möge sich zu ihr bekennen und den Heiratsantrag, den sie ihm abgepresst hat, aus eigener Überzeugung wiederholen und in die Tat umsetzen.

Während das Setting des Romans typisch ist für die postmoderne Nomadenexistenz – die Heimatlosigkeit zwischen den Kontinenten, die Bindungsscheu, dazu der Wunsch des Protagonisten, einen Roman zu schreiben –, steht die Art und Weise, wie Lozinski davon erzählt, in der Tradition der Moderne. Die Freiräume, die er dem Leser lässt, entstehen aus der subtilen Kunst der Auslassung. Die Atmosphäre überzeugt sofort. Der gelassene Kosmopolitismus dieser Reise zu den Daseinsbedingungen der eigenen Existenz hat nichts mit dem schicken Großstadt-Hopping und Name-Dropping mancher Gegenwartsromane zu tun.

Elegant führt Lozinski mehrere Zeitebenen parallel. Den Sprung von der einen zur anderen bemerkt man kaum und ebenso wenig, dass die Zeit das große Thema des Romans ist. Während wir Anna und Daniel auf der Fahrt zum Flughafen sehen, erfahren wir von seinem Tick, die Fingernägel immer nur abends zu schneiden, um die damit verbundene Gereiztheit in Grenzen zu halten. Nebenbei hören wir von den Schwierigkeiten, einen „modernen Roman“ zu schreiben, wie Daniel, eigentlich Journalist, sein Projekt nennt. Der Zöllner vergleicht das Foto im Pass mit dem Gesicht des Reisenden: „So sieht ein Mensch mit Mutter aus, dachte Daniel, und so einer ohne. Er hätte es nicht gewagt, diesen etwas plumpen, pathetischen Satz in seinen Roman aufzunehmen. Dabei hatte er ihn eben jetzt genau so gedacht.“ Mit einer Ironie zweiter Ordnung behilft sich der Autor, um auszusprechen, was als pathetisch gilt – und doch die Quintessenz von Literatur ausmacht.

In Paris begibt sich Daniel auf die Spuren seiner Mutter, hin und her gerissen zwischen pragmatischen Belangen und dem sorgfältig abgewehrten Wunsch, sich an seine Kindheit zu erinnern und die Frau zu betrauern, die er ab einem bestimmten Ereignis „Astrid“ und nicht mehr „Maman“ nannte. Er hat sie offenbar ziemlich mutwillig und ohne Angabe seiner neuen Adresse verlassen. Was ist zwischen den beiden vorgefallen?

Der Roman ist alles andere als eine fiktive Abrechnung. Mehr noch als bei seinem Helden verblüfft Lozinskis Kunst der Einfühlung bei der aus Schweden stammender Mutter, deren Krebsleiden er in allen Stationen beschreibt, sehr genau und doch zurückhaltend. Zugleich erweckt er eine früher schöne Frau zum Leben, mit einer enormen erotischen Ausstrahlung, die sie selbst kaum wahrnahm, ihr Sohn aber umso mehr. Immer wieder taucht eine Schlüsselszene auf. Astrid und der vaterlose Daniel sind im Urlaub gemeinsam am Strand. Die Mutter bittet den Sohn, ihr Bikinioberteil zu lösen, und legt sich mit geschlossenen Augen in die Sonne. Der Sohn aber beobachtet die Blicke der Männer. Er herrscht sie an, sie solle sich gefälligst bedecken. Sie übergeht seinen Wunsch. Oder war es ein Befehl? Was dann geschehen ist, erfahren wir erst gegen Ende des Romans, wie auch das Geheimnis um Daniels Vater.

Mikolaj Lozinski erzählt eine besondere Geschichte, voller Tragik, Verfehlung und uneingestandener Trauer. Doch auf dem Weg fallen eine Menge Lebensweisheiten vom Baum der Erkenntnis: über männliche Besitzansprüche, über eifersüchtige Söhne, über die Schwierigkeiten Alleinerziehender, die Liebe zwischen älteren Menschen, über Ehebruch, Krankheit, Schmerz und Tod. „Ein Tag aus dem Leben des menschlichen Denkens“ würde Daniel sein Opus gern nennen, das er sich als fünfhundert Seiten dickes Buch vorstellt. Sein Autor hat es kürzer geschafft. Auf gerade mal zweihundert Seiten gelingt ihm ein leichthändiger Roman über schwerwiegende Fragen.

Mikolaj Lozinski: Reisefieber. Roman. Aus dem Polnischen von Roswitha Matwin-Buschmann. DVA, München 2008, 206 S., 17,95 €.

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