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Kultur: "Die Fremde": Atemberaubend: Albert Memmis Roman über eine französisch-tunesische Ehe in den 50-er Jahren

Der Ehemann weiß, dass seine Frau großen Hunger hat, "doch sie wartete auf den bei ihren Landsleuten traditionellen Milchkaffee. Die Blicke aller ruhten in diesem Moment auf Marie und zeigten tiefe Enttäuschung.

Der Ehemann weiß, dass seine Frau großen Hunger hat, "doch sie wartete auf den bei ihren Landsleuten traditionellen Milchkaffee. Die Blicke aller ruhten in diesem Moment auf Marie und zeigten tiefe Enttäuschung." Sie sollte wenigstens eine der "weiß-grünen Marzipanschnitten" oder eine "Kichererbsenkrokette" probieren, widerstand jedoch "ein wenig ratlos diesem allseitigen Druck und wußte nicht, wie sie sich verteidigen sollte." Heutzutage würde sich sicher keine junge Europäerin, die in den Orient geheiratet hat, schon Probleme schaffen, wenn die Schwiegerfamilie ihr honigtriefendes Gebäck anbietet - und das erst recht nicht, wenn sie studiert hat und ihren tunesischen Gatten bereits seit Jahren kennt. Aber die Geschichte spielt zu Beginn der 50-er Jahre. Obwohl Tunesien noch zum französischen Kolonialreich gehörte, war die Kenntnis der Kulturen minimal.

Die aus strengem katholischem Hause stammende Elsässerin Marie und der junge tunesische Jude hatten sich beim Studium in Paris kennengelernt. Sie fühlten sich als Atheisten und den modernen Werten der Republik verbunden, solange sie in der Metropole lebten. Als sie geheiratet hatten und nach Tunis gingen, wo er sich als Arzt niederlassen wollte, begannen die Schwierigkeiten bereits bei "Honigkringeln" und eskalieren schließlich in Zonen tiefster menschlicher Verzweiflung. Marie gewöhnt sich weder an das mit Öl gekochte Essen noch an die teils fürsorgliche teils eifersüchtige Haltung ihrer Schwiegerfamilie. Auch die Freunde ihres Mannes können ihr nichts recht machen, weder wenn sie sich in ihrer traditionellen Kultur verhaftet zeigen noch wenn sie die modernen Europäer spielen.

Die junge Frau zieht sich mehr und mehr in die Einsamkeit ihres Zimmers zurück. Die Unausweichlichkeit der Katastrophe wird offenbar, sobald sie sich schwanger fühlt und fürchtet, einen Jungen zur Welt zu bringen. Denn es besteht kein Zweifel, dass zwar nicht er selbst, aber die Familie ihres Mannes auf einer Beschneidung besteht.

Zerrissen zwischen den Identitäten

Der Erzähler ist in Albert Memmis Roman aber derjenige, der beide Kulturen kennt, sich plötzlich zwischen ihnen zerrissen fühlt und kaum weniger leidet als Marie: der sie zärtlich liebende Gatte. Er weiß nicht nur, er fühlt in seinem Innersten, wie Marie leidet, aber auch wie seine Mutter, seine Schwestern und der Vater leiden. Als der Druck auch nicht weicht, nachdem er mit Marie in die Vorstädte geflohen ist - kein geringerer als der Rabbiner wird ihn an seine religiösen Pflichten erinnern - gibt er sich selbst auf, lebt nur noch nach den Entscheidungen anderer. Am Ende hofft er sogar, daß Marie sich durchsetzt: "Obwohl ich nicht ertragen konnte, dass sie ablehnte, nahm ich ihr übel, wenn sie mir gegenüber nachgab."

Eine Weile lang setzt sie sich tatsächlich durch, schließlich aber wird sie nachgeben. Als bei dem Söhnchen eine Vorhautverengung die Beschneidung auch medizinisch vertretbar macht, stimmt sie scheinbar widerstandslos zu. Eine der stärksten Szenen des Buches ist die, in der der innerlich zutiefst beschämte Vater seinen Sohn zur Operation trägt und dann im Aufschrei des Kindes die Niederlage all dessen erlebt, wofür er bislang zu leben glaubte. Der durch medizinische Vorwände nur dürftig bemäntelte Sieg der Kultur des Mannes über die der Frau bringt dem Paar keinen Frieden mehr. Als Marie glaubt, im Gegenzuge eine kleine Weihnachtsfeier für den Sohn arrangieren zu dürfen, zerbricht ihre Ehe endgültig.

"Daß sie mich bitten konnte, einen christlichen Brauch zu pflegen, wo ich derartige gewaltige Anstrengungen unternahm, um gegen meine eigenen Traditionen anzukämpfen, die sie unterschiedslos ablehnte, schien mir, gelinde gesagt, von merkwürdiger Ignoranz." Der Erzähler erkennt und bekennt zwar seine eigene Borniertheit, aber ihm fehlt die Kraft, weiter zu kämpfen. Als Marie erneut schwanger wird, entscheidet sie sich für eine Abtreibung, die die endgültige Trennung einleitet.

Dieser atemberaubende Roman des großen tunesischen Autors Albert Memmi erschien 1955 in Paris, wurde aber zunächst nur ein Bestseller in den USA, wo die Problematik bikultureller Ehen schon von mehr Menschen gelebt wurde als in Europa. Im Zeichen der heutigen political correctness zwischen den Kulturen - die harte Themen wie die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Trauma der männlichen Beschneidung sowohl in der jüdischen als auch in der muslimischen Kultur eher meidet - könnte ein so radikaler, ganz von republikanischen Prinzipien her entwickelter Roman wohl kaum noch geschrieben werden. Manche Gemüter mag er mehr schockieren als Betty Mahmoodys "Nicht ohne meine Tochter".

Aber Vorsicht! An Mahmoodys Buch war nicht die erzählte Geschichte an sich kritikwürdig. Kindschaftskonflikte dieser Schärfe finden tatsächlich statt und sind keineswegs zufällig zwischen Ehepartnern aus der muslimischen und aus der christlichen Hemisphäre. Kritikwürdig war hier die Art der Darstellung: die wahrscheinlich keineswegs naive Selbstzentriertheit, mit der sich eine amerikanische Provinzlerin der iranischen Kultur als rundum überlegen feierte. Es stimmt beispielsweise einfach nicht, dass es in wohlhabenden orientalischen Haushalten schmutzig zugeht. Und Mahmoodys Ehemann hatte sich in einem Spiegel-Interview als durchaus verantwortungsbewußter Vater präsentiert. Bei Memmi wird keine der miteinander in Konflikt geratenen Kulturen als überlegen gezeigt. Weil sie jeweils konsequent aus der Würde des eigenen Selbstverständnisses heraus geschildert werden und der Erzähler seine ausweglose Zerrissenheit bekennt, gewinnt der Roman die Dimension einer klassischen Tragödie.

Bildung, Toleranz und Liebe

Interviewt von Regina Keil, die mit Geschick und Sensiblität übersetzt hat, gesteht Memmi, dass er auch heutzutage bikulturellen Ehen nur dann eine Chance gibt, wenn die Partner hohe Bildung und Toleranz mitbringen. Es genügt nicht, wenn sie auf der rationalen Ebene vorhanden ist, sie muss sich bis in die tiefsten Herzensregionen ausbreiten. Ich selbst habe einmal aus nächster Nähe miterlebt, dass einer französischen Mutter von einem algerischen Gericht nach der Scheidung zwar das Sorgerecht für die Kinder übertragen wurde, der Vater diese aber in die Kabylei entführte. Erst nach mehreren Jahren und einer Protestaktion namhafter algerischer Intellektueller wurden ihr die Kinder von der Polizei zugeführt. Als diese während eines ganzen Jahres nicht aufhörten, die Rückkehr zu Vater und Großeltern zu verlangen, entschloss sich die Frau, sie in die Kabylei zurückkehren zu lassen.

Mit diesem für sie so schmerzlichen Akt der Größe erreichte sie die Einigung, dass sie ihre Kinder jederzeit besuchen konnte und dass diese in Zukunft selbst entscheiden durften, bei wem sie leben wollten. Nicht nur Menschen, die das Wagnis einer bikulturellen Partnerschaft eingehen wollen, sei Memmis Roman empfohlen. Von allgemeinem Interesse ist seine Botschaft, dass kulturelle Differenz zwischen Individuen zwar gewaltfrei, kaum aber ohne tiefste psychische Schmerzen gelebt werden kann.

Sabine Kebir

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