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Regisseur Jafar Panahi in einer Szene seines Films "Taxi".

© Berlinale/dpa

Die Gala der Berlinale 2015: Weil wir träumen

Was für ein Finale, was für eine Berlinale: Die 65. Ausgabe ist ein voller Erfolg - nicht zuletzt dank einer ungewöhnlichen Jury, die einen konsequent-mutigen Preis an den iranischen Regisseur Jafar Panahi und seinen Film "Taxi" vergibt.

Was für ein beglückendes und zugleich klug orchestriertes Ende der 65. Berlinale, diese eminent politische Jury-Entscheidung – nach zehn Tagen, an denen das Massenfestival Berlinale von terroristischen Wahnsinnstaten verschont blieb, und an einem Abend, an dem schon wieder furchtbare Nachrichten kommen, diesmal aus Kopenhagen! Noch zu Festivalbeginn hatten der Jury-Präsident Darren Aronofsky und der Koreaner Bong Joon-ho gescherzt, wer von den beiden denn nun die ausgeflippteren Filme mache. Und nun regiert die pure Vernunft, und die darf bitteschön mal siegen, gerade in diesen verrückten Tagen und Wochen.

Der Goldene Bär an den im Iran mundtot gemachten und mit Ausreiseverbot belegten Regisseur Jafar Panahi und seine brillante, so humorvoll anhebende und sich bald bitter eindüsternde Satire „Taxi“; dazu nahezu alle weiteren Preise an wichtige Filme, die den Uralt-Nimbus der Berlinale als politisch relevantes Festival bestätigen – und zugleich nicht nur thematisch gut gemeint, sondern auch durchweg ästhetisch stark sind. Gleichzeitig nicht ein einziges Wackeln bei der Wahl der Gewinnerfilme, keinerlei Fehlentscheidung, sondern kompromissloser Sinn für Qualität.

Wann hat es das zuletzt derart imponierend gegeben, in Berlin, Cannes oder sonstwo? Ja, man möchte, man muss sie alle sieben noch einmal nennen für dieses Leuchtfeuer gemeinsamer Urteilskraft: neben Aronofsky und Bong gehören zu dieser schon jetzt historischen Jury Claudia Llosa, Audrey Tautou, Martha de Laurentiis, Matthew Weiner und Daniel Brühl.

Jafar Panahi und ein ikonisches Hoffnungsbild

Und dann die Preisvergabe selbst im Berlinale-Palast, welch ein bewegendes Finale dieser so rundum gelungenen Berlinale. Natürlich ist Jafar Panahi nicht in Berlin, aber seine Frau hat zur Preisverleihung anreisen können – und seine Nichte Hana. Die Kleine spielt in seinem Film das vorwitzig kluge Kind, das dem Taxifahrer Jafar Panahi von den strengen Drehregeln für „verleihbare“ Filme berichtet, so wie sie im Unterricht gelehrt werden, und zugleich entfalten sie sich im Kopf des Zuschauers als vollends absurd. Festivalchef Dieter Kosslick eilt von der Bühne in den Saal, übergibt Hana die Trophäe, begleitet sie auf die Bühne, und das Kind reißt den Arm hoch mit dem Goldenen Bären in der Hand – wenn das nicht ein ikonisches Hoffnungsbild für die Zukunft ist!

Und erst die Kindertränen unmittelbar darauf: Was wäre, wenn sie das Berufs- und Reiseverbot für Panahi und die Schikanen überhaupt von Diktaturen gegen Künstler und den irren gegenwartsvergiftenden Terror einfach wegschwemmten? Ein Hoffnungszeichen immerhin ließ sich ausgerechnet aus dem üblichen Beschwerdebrief der iranischen Offiziellen herauslesen, mit dem sie schon vorab die Einladung Panahis in den Wettbewerb quittiert hatten. Der Kinobeauftragte des Kulturministeriums, Hodschatollah Ajubi, beklagte in seinem Brief an Kosslick zwar, die Berlinale habe mal für „Kultur und Kunst“ eingestanden, „jetzt aber hören wir immer die lauten Schritte der Politik“. Aber der Nachrichtenagentur dpa zufolge fügte er an: „Als Kinobeauftragter bin ich auch nicht glücklich, dass ein Filmemacher nicht arbeiten darf, aber ich beuge mich eben den hiesigen Gesetzen.“

Schon die Präsentation der Jury zu Gala-Beginn deutete auf Besonderes hin: Man habe wie sonst immer die Auftritte der Mitglieder einzeln proben wollen, sagte Moderatorin Anke Engelke, aber Darren Aronofsky habe sofort abgewinkt: „Wir stehen für jeden Preis gemeinsam ein.“ Um am Mikrofon dann sofort die „unglaubliche, herausragende Auswahl“ zu loben – womit sich mühelos die immerhin zweimal doppelte Bären-Vergabe (in Sachen Regie und Kamera) rechtfertigt. Dieter Kosslick, der Panahi seit Jahren mit Einladungen in die Jury und auch seiner Filme die Treue hält, setzte bei der Gala mit einem Bekenntnis zum wachen Wirklichkeitsbezug der Filme und des Festivals den Ton. Und die Jury selber hatte schon zum Berlinale-Start famos kohärent Figur gemacht.

Wucht aus Enge: "El Club", "Aferim!", "Under Electric Clouds"

Ob die beißende Kritik am Kindesmissbrauch katholischer Priester, aber auch an der Omertà, mit der selbst die neue innerkirchliche Jurisdiktion operiert (Pablo Larraíns „El Club“); ob die Abrechnung mit der chilenischen Militärdiktatur im Gewand des poetischen Dokumentarfilms (Patricio Guzmáns „Perlmuttknopf“) oder mit der Knechtung der Zigeuner im Rumänien des 19. Jahrhunderts (Radu Judes „Aferim!“); ob die geradezu endzeitliche Auflösung aller Strukturen in einem seit dem Zerfall der Sowjetunion desorientierten Russland (Alexej Germans „Under Electric Clouds“): Keiner dieser von der Jury so triftig ausgezeichneten Filme hat das grobe Agitprop-Transparent nötig, um seine Kraft zu beweisen. Im Gegenteil, aus der Enge der gezeigten Verhältnisse, aus der Konkretion und Reduktion zugleich bezieht jeder seine Wucht.

Angesichts dieses pointierten Statements der Jury trat zuletzt ein immer wieder gesprächsdominierendes Festivalthema in den Hintergrund: die starken Frauenfiguren in der knappen Hälfte der Wettbewerbsfilme. Überhaupt: Das transparente Zelt, das die Aktivistinnen von Pro-Quote-Regie vorm Ritz Carlton aufgestellt hatten, mochte sehr klein sein, die Wirkung allerdings war beträchtlich. Aufmerksam wurde die Einladung von drei Regisseurinnen in den Wettbewerb (gegenüber 16 Regisseuren) registriert. Und der „Hollywood Reporter“ entwickelte sogar den Eifer, den Berlinale-Vorsprung gegenüber dem letztjährigen Cannes-Wettbewerb (zwei Frauen, 16 Männer) bis auf eine Stelle hinterm Komma prozentual zu fixieren.

Tour de Force "Victoria"

Die polnische Regisseurin Malgorzata Szumowska, die den Regiepreis erhielt, brachte zur Gala eine universell fröhliche Botschaft mit: „Ich führe Regie und bin eine Frau, und das ist eine Super-Kombination!“ Ihr Film „Body“ ergründete präzise die Welt einer Magersüchtigen und plädierte zugleich gegen jedes Transzendentalbrimborium und für, auch hier scheint das Jury-Leitmotiv durch, die Kraft der Vernunft. Wobei die Jury mit der Auszeichnung für Jayro Bustamantes viel bejubelten „Ixcanul“, Erstling des guatemaltekischen Filmemachers und erster Wettbewerbsbeitrag aus Guatemala überhaupt auf der Berlinale, elegant unterstrich, dass auch Männer ausgezeichnete Filme über und mit Frauen drehen können.

Und die Deutschen? Auch hier behielt die Jury eine glückliche Hand. Sebastian Schippers von manchen in die Favoritenposition hochgeschriebene Tour de Force „Victoria“ zeichnete sie exakt für die Anstrengung aus, die von dem Film bleiben wird: die Leistung des norwegischen Kameramannes, 140 Minuten lang ein Ensemble von sechs Personen in Realzeit durch die Berliner Nacht zu begleiten. Dass Werner Herzogs „Queen of the Desert“ – ja, es gab auch schlechte Filme auf dieser Berlinale – ebenso leer ausging wie – ja, es gab auch interessant missglückte – Andreas Dresens „Als wir träumten“: Das ist nach dem Festival-Happyend wohl nachrangig. Diese 65. Berlinale wird als eine in Erinnerung bleiben, die große Filmbilder sammelte und ganz am Schluss auf der Gala ein bleibendes, umwerfend anrührendes Berliner Bild schuf. Weil wir träumen, trotz allem.

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