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Kultur: Die Geschichte wird abgeblasen

Melancholie des Terrors: Der Künstler Raymond Pettibon probt in Berlin sein „Weathermen“-Stück

Draußen vor dem Fenster wirbelt Staub selbstvergessen in einer Miniwindhose über den Hinterhof. Ein bisschen ähnelt dieser Kleintornado Raymond Pettibon. Der Künstler sitzt in einem Café gegenüber der Galerie Contemporary Fine Arts, die ihn in Berlin vertritt, und redet weitschweifig-rotierend und mit langen Gedankenpausen: vom Fall Saigons und der „Schmach Vietnam“, vom daraus resultierenden Einflussverlust der Amerikaner in Panama und Grenada, vom Irak, der zum neuen Vietnam wird. Vor vier Jahren begannen die USA ihre militärische Intervention im Golfstaat. In Washington, so meldet das Radio, demonstrieren Zehntausende gegen die Politik der Regierung. „Kann sein, dass Geschichte sich wiederholt“, murmelt der 1957 geborene Pettibon, der beim Reden jeden Blickkontakt vermeidet.

„Man braucht keinen Wettermann, um herauszufinden, aus welcher Richtung der Wind weht“, sang Bob Dylan 1965 in seinem „Subterranean Homesick Blues“, und es klang so schön verwegen, so optimistisch. Woher weht heute der Wind? Raymond Pettibon schiebt ein Manuskript auf den Tisch, knittrige, randlose Seiten, eng beschrieben, bekleckst mit roten Tuscheflecken. Oder ist es Blut? Ganz oben steht „The Whole World Is Watching. Weathermen ’69“. Der Rest ist unleserlich. Pettibon hat diese und ein paar Tausend weitere Worte Ende der achtziger Jahre zu Papier gebracht, kurz bevor der Kunstbetrieb den nervösen, rätselhaften Zeichner und Undergroundgrafiker für sich entdeckte. Bevor er in großen Museen ausgestellt wurde und seine oft düsteren Bilder, die an Comics, Fanzines und Film Noir denken lassen, auf dem Markt hohe Preise erzielten.

Auf den vergilbenden Papieren stehen Dialoge, Monologe und Songtexte, die sich mit der linksradikalen Vereinigung Weathermen und dem Beginn aggressiver subkultureller Jugendbewegung auseinandersetzen. Die maoistische Organisation hatte sich 1969 vom amerikanischen sozialistischen Studentenbund abgespalten und in den Untergrund verabschiedet mit einer Kampfschrift, die mit dem Dylan-Zitat überschrieben war: „You don’t need a weatherman to know which way the wind blows.“

Die Weathermen organisierten Demonstrationen und zettelten Straßenschlachten an, befreiten den LSD-Papst Timothy Leary aus dem Gefängnis und spielten mit Sprengstoff – wobei allerdings nur Mitglieder der militanten Gruppe starben. Heute leben die ehemaligen Desperados ein fast normales Leben, und ihre Geschichte ist als Räuberpistole eingegangen ins popkulturelle Gedächtnis Amerikas.

Raymond Pettibon, der in seinen weit über tausend Zeichnungen wie kein anderer amerikanischer Künstler regelrecht heimgesucht wird von Motiven der sechziger, siebziger Jahre, drehte 1989 gemeinsam mit der Band Sonic Youth den Undergroundfilm „The Whole World Is Watching“. Pettibon war damals eine Größe in der Punkszene und lebte ihren Do-It-Yourself-Gedanken: Der leidenschaftliche Surfer spielte in Bands, gestaltete Plattencover für Sonic Youth, Minutemen, Meat Puppets und für Black Flag, die Band seines Bruders, und vertrieb über das kalifornische Schallplattenlabel SST Künstlerhefte im Fanzinestil, die heute begehrte Sammlerstücke sind.

In „The Whole World Is Watching“ nun sprach Sängerin Kim Gordon Monologe, die Pettibon der charismatischen Weathermen-Anführerin Bernardine Dohrn in den Mund gelegt hatte. Die Punkgeneration setzte sich hier mit dem Erbe auseinander, das ihr die größeren Geschwister hinterließen. Auf Youtube.com kann man einen fünfminütigen Ausschnitt dieses No-Budget-Videos sehen: Die Wettermänner durchforsten Pettibons Plattensammlung und zerbrechen ein Album nach dem anderen.

Wer Geschichte schreiben will, muss erst Geschichte zerstören. Oder zumindest seine Position darin klären. „Mich interessiert die weltumspannende Kraft, die die revolutionäre Idee damals hatte“, sagt der Kalifornier Pettibon, der eigentlich Raymond Ginn heißt und den sein Vater petit bon nannte.

Aus dem Konvolut, das unter seinem Arm klemmt, rutschen einige Blätter auf den Boden. Der Künstler hebt sie auf – und weitere Papiere fallen herunter. Der Komponist und Performer Oliver Augst, der mit am Tisch sitzt, übernimmt das Reden: Er hätte in Pettibons Text über diese Organisation, die ähnlich anmaßend, aber nicht so mörderisch wie die RAF war, ein „Modell für Weltveränderung, Revolution und Scheitern“ gefunden. Man könne das als Libretto lesen, für ein Musical, ausgerechnet. Punk goes Broadway!

Augst wirkt in Anzug und Krawatte gekleidet wie das Gegenbild zu Pettibon, der eine weite Leinenhose, ein weites T-Shirt und ein offenes Holzfällerhemd trägt. Zusammen wagen der smarte Komponist und der genialische Künstler, die schon vorher gemeinsam Hörspiele produziert haben, nun eine Bühnenadaption des Stoffes in den Sophiensaelen. Mit: Schorsch Kamerun, Kopf der Hamburger Postpunkband Die Goldenen Zitronen, sowie dem japanischen Noisemusiker Keiji Haino. Sie werden keine Rollen spielen, sondern sich das Material musizierend, rezitierend, performend aneignen.

Das Timing stimmt: Seit Anfang des Jahres wird in Deutschland so emotional wie ehedem über linksradikalen Terror gesprochen. „Doch statt sich direkt mit der RAF auseinanderzusetzen, bietet die Geschichte der Weathermen mehr Distanz“, erklärt Augst. Distanz, die die menschliche Seite des Modells erkennbar mache und Platz lasse für Trauer darüber, dass die diffuse Idee einer Weltveränderung gescheitert sei.

Pettibon grübelt und widerspricht: Eigentlich könne man nicht sagen, dass die Gruppe gescheitert sei, „die Weathermen haben den Krieg nicht verloren“. Die militanten Aktivisten hätten den Amerikanern das Grauen tatsächlich näher gebracht, meint der Autodidakt, der in seinen Arbeiten auch immer wieder Gewaltexzesse darstellt, Explosionen, Vergewaltigungen, Menschen, die sich die Augen auskratzen.

Vielleicht erreicht das als „Trash-Musical“ deklarierte Bühnenstück dieselbe Intensität. In den Improvisationen ist zumindest der oft spontane Aktivismus der Weathermen aufgehoben, deren Politikverständnis popkulturell untermalt war. So veröffentlichte die Gruppierung sogar ein Songbook, in dem sie bekannte Lieder mit verändertem Text präsentierte. Das Weihnachtslied von Irving Berlin etwa wird zu „I’m dreaming of a white riot“.

Pettibon hat die losen Papiere endlich auf den Tisch gelegt und holt in mehreren Anläufen erneut aus, zieht Vergleiche zwischen dem urbanen Terrorismus und Urheberrechtsverletzungen, berichtet von Leonard Bernsteins Aktivitäten für den politischen Untergrund, dem subversiven Potenzial von Musicals und von Dylans berühmtem „Girl from the North Country“, das sich auf Bernardine Dohrn beziehen soll. Pettibon liebt solche Zusammenhänge. Auch in seinen Zeichnungen kombiniert er Text und Schrift so, dass der Betrachter sich darin verirrt.

Und während Pettibon redet und redet, drängt sein Begleiter zum Aufbruch. Sie wollen zum Flohmarkt, um Schallplatten zu kaufen, die dann auf der Bühne zerbrochen werden. Pettibon ist einverstanden und unterbricht seine Ausführungen, die sich immer weiter im Kreis drehen könnten. Draußen ist es windstill. Wer Geschichte schreiben will, muss sein Verhältnis zur Geschichte klären.

„The Whole World Is Watching“, 21. bis 25. März, 20 Uhr, Sophiensaele (Sophienstr. 18, Mitte). Bis 6. Mai zeigt die Kestnergesellschaft in Hannover Arbeiten von Pettibon.

Daniel Völzke

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