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Kultur: Die Glückskatastrophe

Imre Kertész hält in Stockholm seine Nobel-Vorlesung

Dass die Zuerkennung des Literaturnobelpreises an Imre Kertész hier zu Lande wie die Ehrung eines Einheimischen aufgenommen würde, war nicht überraschend. Rätseln konnte man allenfalls über die Gründe dafür. Weil Kertész sich momentan in Berlin aufhält und ausgezeichnet Deutsch spricht? Weil er trotz seines Schicksals die Deutschen mag? Weil er das Auschwitz-Trauma philosophisch gehärtet und damit für uns fassbar, erträglich gemacht hat? In Schweden kann das alles nicht gelten. Und dennoch begegnet man ihm hier mit ebenso viel Wärme, ja Bewunderung wie bei uns.

Wo immer Kertész erkannt wird – und als Nobelpreisträger trägt er wie auch die anderen Geehrten jenen „goldenen Knopf“, an dem man ihn und seine Mitstreiter ausmachen kann –, kommt es zu spontanen, herzlichen Begegnungen. Leser seines „Romans eines Schicksallosen“ oder auch nur Personen, die in den Tageszeitungen, in „Dagens Nyheter“ oder im „Svenska Dagbladet“, eine der ebenso fundierten wie enthusiastischen Buchbesprechungen gelesen haben, gehen auf ihn zu und sagen ihm, dass sie sich über die Auszeichnung freuen. „Endlich“, soll jemand in der Pressekonferenz gerufen haben, als am 10. Oktober die diesjährige Preisentscheidung bekannt gegeben wurde und als für Kertész jene „Glückskatastrophe“ begann, als welche er die Stockholmer Entscheidung empfindet.

Die Nobel Lecture, stets drei Tage vor dem 10. Dezember (Nobels Todestag und alljährlicher Verleihungstermin) in der Schwedischen Akademie gehalten, gilt als Vorab-Höhepunkt der Feierlichkeiten. Sie ist allein dem Preisträger für Literatur vorbehalten. Er darf, ja er muss 45 Minuten reden, wobei Imre Kertész ein kleines Sakrileg begeht: Seine Rede endet bereits nach 38 Minuten. Mehr, Unnötiges gar, habe er nicht mitteilen wollen, wie er am Rande dazu bemerkt.

In dem ehrwürdigen Empire-Saal der Schwedischen Akademie hat man Ungarisch, die Muttersprache des diesjährigen Preisträgers, bislang noch nicht gehört. Kertész ist der erste ungarische Autor überhaupt, der mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wird. Da freilich Ungarisch nicht zu den indogermanischen Sprachen gehört, wie Kertész selber immer wieder entschuldigend sagt, greift sich das Publikum sogleich eine der ausliegenden Übersetzungen und vertieft sich in den schwedischen, englischen oder deutschen Text. Für den Redner selbst nicht ganz leicht. Indes, nach anfänglichen Schwierigkeiten kommt Kertész gleichsam gut über die Runden. Im Auditorium obsiegt schließlich nicht nur die Neugierde auf den diesjährigen Preisträger. Seine Ausstrahlung und die geistige Entschiedenheit, die auch in diesem Text unmittelbar zu spüren ist, wissen rundum zu packen.

Kertész hatte ursprünglich daran gedacht, an Albert Camus’ Nobelpreis-Lesung von 1957 anzuknüpfen. Sie hat ihn damals tief bewegt. Er erwog, sich mit dem Sisyphos-Mythos zu befassen, an dem ja auch Camus ein Stück seiner Fremdheits-Empfindungen verdeutlicht hat. Der Holocaust sei „die Endstation, an der der europäische Mensch nach 2000 Jahren ethischer und moralischer Kultur angekommen ist“, heißt es in Kertész’ Rede nun. Diesen Tiefpunkt der Zivilisation wie der Kultur könne man nicht mehr von sich schieben oder gar aufarbeiten. „Das wirkliche Problem Auschwitz besteht darin, dass es geschehen ist und dass wir an dieser Tatsache mit dem besten, aber auch mit dem schlechtesten Willen nichts ändern können.“ Aber der Stein des Sysiphos nutze sich wie alle Dinge des Lebens ab, er werde kleiner. Also relativiere sich auch Auschwitz. So sehr seine menschheitsexistenzielle Bedeutung fortwirke, so werde doch der Abstand dazu von Tag zu Tag größer. Es rücke in die Reihe der elementaren Eckpunkte unserer Geschichte.

Die Stockholmer Lesung hat zwar erneut Auschwitz, Kertész’ „großes“ Thema, zum zentralen Gegenstand. Der Vortragende hat indes wohl in erster Linie seine ungarischen Landsleute im Blickwinkel. Bewusst-unbewusst umkreisen seine Ausführungen die politische und moralische Zerrissenheit, die in Ungarn derzeit zur Frage des Nationalen und zum Verhältnis gegenüber der eigenen Geschichte herrscht. Nicht zuletzt an Kertész’ Nobelpreis-Ehrung hat sich der Streit entzündet, indem sie wohl einerseits die ungarische Gesellschaft spaltet, andererseits aber gerade jene Kräfte ermutigt und bestärkt, die sich – mit Kertész – der eigenen Wahrheit und dem Sich-Öffnen gegenüber (West-)Europa verpflichtet wissen.

Kertész’ Rede ist denn auch vordergründig durchaus persönlicher Natur. Er spricht davon, wie er zum Schreiben kam, wie ihn das Erlebnis des zweiten, des stalinistischen Totalitarismus dazu gebracht hat, das System der Diktatur zu durchschauen – diesmal mit erwachsenen Augen. So habe er begriffen, dass „mein Romanheld in den Konzentrationslagern nicht seine eigene Zeit lebt, weil er weder im Besitz seiner Zeit, noch seiner Sprache, noch seiner Persönlichkeit ist“. Von hier aus sei er, Kertész, geradezu zwangsläufig zur Reinheit und Radikalität seiner Sprache gelangt sowie zu der Unerbittlichkeit, mit der er schriftstellerisch wie auch politisch den eigenen Erlebnissen von Auschwitz-Birkenau, von Buchenwald und Zeitz nachgegangen sei.

Die Vorlesung endet mit dem Bericht über einen Brief des Direktors der Buchenwald-Gedenkstätte, der den Autor erst vor kurzem, nach der Stockholm-Entscheidung erreichte. Der Brief enthielt eine Kopie der Lager-Tagesmeldung vom 18. Februar 1945, wonach „Kertész Imre“ unter der Rubrik „Abgänge“ als toter Häftling vermerkt ist. „Einmal bin ich also schon gestorben, um leben zu dürfen – und vielleicht ist dies meine wahre Geschichte.“

Für das Auditorium der Schwedischen Akademie war diese Nobel Lecture, wenn nicht alles täuscht, eine eher ungewöhnliche Begegnung. Am Schluss der Rede herrschte jedenfalls eine fast atemlose Stille, die Versammlung applaudierte mit stehender Ovation. Die „Glückskatastrophe“ des Imre Kertész hält weiter an.

Ingo Fessmann

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