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Kultur: Die Glut schwelt noch

Mozart blieb verschont: Weimar trauert um den Verlust der Anna Amalia Bibliothek. Eine Ortsbesichtigung

Um zur Herzoglichen Bibliothek zu gelangen, musste Goethe nur um zwei Ecken gehen. Auch als alter Herr dürfte er nicht mehr als fünf Minuten gebraucht haben. Wenn er aus dem Tor seines Hauses auf den Frauenplan trat, ging es rechtsherum durch die Seifengasse, vorbei am Haus der Frau von Stein und vor dem Park an der Ilm links, dann stand er vor dem Grünen Schlösschen, das Herzogin Anna Amalia zur Bibliothek ausbauen ließ. Goethe ging diesen Weg oft. Von 1797 bis zu seinem Tod war er dort Direktor.

Jan Trottnow tritt am Donnerstag, den 2. September 2004 ungefähr um 21 Uhr aus der Faustina-Bar neben dem Goethehaus auf die Seifengasse. Jan ist der Barmann. In der Faustina ist in diesen Tagen besonders viel los, weil Festivalleiterin Nike Wagner hier für die Künstler des Weimarer Kunstfestes einen gastronomischen Stützpunkt eingerichtet hat. Jan verlässt die Bar. Er sieht über den Satteldächern der Seifengassen-Häuser eine Feuer-Corona, fünfzehn Meter hoch und zehn Meter breit, schätzt er. Die Corona ist eingefasst von weißleuchtenden Vögeln. Die Vöge sind brennende Buchseiten. Sie schwirren in die Höhe und verglühen in der Dunkelheit.

Jedes verbrannte Buch sei wie ein gestorbener Freund, erzählt Trottnow am Freitag kurz vor Mitternacht. Und korrigiert sich: Natürlich sei jedes Menschenleben unvergleichlich wertvoller. Aber hier gehe es um „geistiges Sterben“. Man könne als Büchermensch seiner Trauer um die Bibliothek heute nicht so einfach freien Lauf lassen. Schließlich hätten die Terroristen in Russland eben erst Hunderte erschossen. „Ein irdischer Verlust ist zu bejammern,/ein geistiger treibt zur Verzweiflung hin.“ Diesen Satz aus „Faust II“ hat Nike Wagner auf die Flyer zum Benefiz-Konzert für die Bibliothek drucken lassen, das am nächsten Abend stattfinden soll.

Auf dem Weg durch die Seifengasse wird die Luft Schritt für Schritt brenzliger. Eigentlich riecht es gut, nach verbranntem Harz, fast wie Weihrauch. Am Telefon hat die freundliche Dame vom Hotel gesagt, in der Brandnacht habe die Luft „den Räuchergeschmack von Fisch oder Fleisch“ gehabt. Freitagnacht ist der Rokoko-Bau der Anna Amalia Bibliothek mit dem Renaissance-Turm gleißend beleuchtet. Aus dem schwarzen Dachstuhlgerippe quillt gut 24 Stunden nach dem Brand immer noch weißer Rauch. Das Gebäude ist weiträumig abgesperrt. Die Wachpolizisten freuen sich über den Kaffee, den die Barchefin für sie mit auf den Weg gegeben hat. Im Moment ist es ruhig. Drei mobile Hebekräne seien im Anmarsch, die den Dachstuhl abstützen sollen, damit die Bergungsarbeiten fortgesetzt werden können. Im Moment darf niemand ins Haus, nicht einmal die Feuerwehrleute.

Am nächsten Tag, 36 Stunden nach der Katastrophe, sitzt Michael Knoche in der schönsten Vormittagssonne auf einer Wiese im Park unterhalb der Anna Amalia Bibliothek. Zwei Tage hat er kaum geschlafen. Knoche hat ein paar Minuten Zeit, die Feuerwehr sichert gerade den Ort, wo der Brandherd war. Das Gerippe des Dachstuhls qualmt immer noch. Gleich sollen einige Kranladungen mit Material daraus geborgen werden.

Michael Knoche hat heute Goethes Posten: Der Bibliotheksdirektor kam 1991 aus dem Westen hierher und kämpfte seitdem für die Renovierung des historischen Bauwerks. Nächsten Monat hätte man das Grüne Schlösschen ganz ausgeräumt, die Bestände in das gerade fertig gewordene Tiefenmagazin gebracht und endlich richtige Brandschutzeinrichtungen gebaut. Seit 1766, als die Bibliothek hier eingerichtet wurde, hat es nicht gebrannt. 238 Jahre lang ging alles gut. Und jetzt, kurz vor der Grundsanierung, diese Katastrophe. Das ist mehr als ein tragisches, es ist ein zynisches Schicksal.

Nein, an den Schadensschätzungen habe sich nichts geändert, sagt Knoche. 30000 Bücher sind verbrannt, 40000 schwer beschädigt, 50000 gerettet. Das seien natürlich nur grobe Schätzungen, die genaue Verlustbemessung könnte Jahre dauern. Außerdem seien wohl fast 40 Gemälde vernichtet worden, die den zentralen Saal schmückten, einen der weltweit schönsten Bibliotheksräume. Seit 1998 gehört das Grüne Schlösschen zum Unesco-Weltkulturerbe.

Über die Brandursache wisse man noch nichts, sagt Knoche. Knoche ist ein Held. Er war bei den Ersten, die in der Brandnacht – nach den Feuerwehrleuten – in das Gebäude vorstießen. Er schaffte es, eine der oberen Galerien zu erreichen und einen Arm voll wertvollster Einzelstücke zu bergen, darunter die kolorierte Lutherbibel von 1534. Es ist ihm peinlich, dass er in Weimar jetzt ein Mythos ist. Er weist lieber darauf hin, dass im Laufe der Nacht die gesamte Bibelsammlung gerettet werden konnte, fast 600 Bände.

Aber auf die Frage nach Einzelstücken, zu denen er ein besonderes Verhältnis habe, hat Knoche dann doch Tränen in den Augen. „Das ist nicht einfach“, sagt er und zögert lange. Da wäre das MozartAutograph eines Klavierkonzertes aus der Sammlung der Anna Pawlowna. Das sei Gott sei Dank verschont geblieben, weil es für eine Ausstellung ausgeliehen war. Aber das Singspiel „Erwin und Elmire“, eine Komposition der Herzogin Anna Amalia nach einem Text von Goethe, sei wahrscheinlich verbrannt. Wie auch das Meiste aus der Musikaliensammlung, die im Dachstuhl untergebracht war. Die Büchersammlung und der Nachlass des ehemaligen Bibliotheksdirektors Konrad Samuel Schurzfleisch seien wahrscheinlich auch verloren.

Eine Mitarbeiterin des Bibliotheksdirektors unterbricht das Gespräch. Die Bergung geht jetzt weiter. Ein Kran hebt eine Metallwanne vom einsturzgefährdeten Dachstuhl. Die Buchleichen in der Wanne sehen schrecklich aus. Restaurator Matthias Hageböck erklärt, dass diese schweren Folianten sich direkt im Brandherd befanden. Vorsichtig klappt er einen schwarzverkrusteten Buchdeckel auf. Die Seiten selbst sind noch lesbar. Es ist, soviel lässt sich entziffern, ein Theologisches Buch von Ludovico Debiel aus dem Jahr 1733.

Hageböck ist verhalten optimistisch bei der Beurteilung des Schadens. Bücher würden mit etwas Glück auch in Brandherden nur äußerlich Schaden nehmen, da kein Sauerstoff nach innen gelange. Vielleicht sei doch einiges zu retten. Die vom Löschwasser feuchten Bände werden nun nach Leipzig zur Deutschen Bücherei gebracht, wo sie tiefgefroren werden und dann später Stück für Stück restauriert werden müssen. Wie lange das bei entsprechender Finanzierung dauern könnte? Ewig, sagt Hageböck.

Im Residenz-Café um die Ecke sitzt Nike Wagner, die Chefin des Weimarer Kunstfests. Sie hat seit eineinhalb Jahren in Weimar eine Wohnung. Sie sagt: „Das Verbrennen, auch das versehentliche Verbrennen von Büchern und Handschriften, erzeugt ein tiefes Schockmoment. Es sind nicht die Seiten und der Buchdeckel. Es geht um unsere geistige Überlieferung, um die Traditionskette, letztlich um unsere geistige Identität.“

Der Brand von Weimar trifft sie tief. So etwas wirke direkt auf das Nervensystem. Die Katastrophe zeige, dass Kulturpolitik deutlichere Prioritäten setzen müsse: „Es ist zu hoffen, dass unsere Gesellschaft, die dazu tendiert, die Gegenwart zum Fetisch zu machen, sich auf die Konservierung der Zeugnisse der Vergangenheit besinnt. So etwas darf nicht noch einmal geschehen.“ Sie wirbt für das Benefiz-Konzert mit Joshua Rifkin und seinem Bach-Ensemble, das für 22 Uhr angesetzt ist. Man kann schließlich nicht die ganze Zeit fassungslos auf verbrannte Balken starren. Dann muss Nike Wagner schnell zum Frauenplan, um dort die Teilnehmer der Franz-Liszt-Kutschen-Tour zu begrüßen.

Am Abend werden vor dem Grünen Schlösschen Bücher aus den unteren Stockwerken herausgebracht und von einer Menschenkette bis zu den Lastwagen geschleppt. Prompt werden Passanten, Schaulustige und Reporter als Helfer eingespannt. Hinter der Menschenkette sind Decken ausgebreitet, darauf liegen die Marmorbüsten aus der Bibliothek. Die berühmten Benutzer, Schiller, Herder, Wieland. Sie haben Rußflecken. Goethe ist nicht zu finden.

Es ist zehn, das Konzert beginnt. Unten im Park vor dem Reithaus, in dem vor der Wende die jungen Pioniere ihre Zentrale hatten, lauschen 300 Menschen den Weimarer Kantaten von Johann Sebastian Bach. Im Hintergrund brummt der Dieselgenerator der Feuerwehr, mal lauter, mal leiser. Hinter der Bühne, an der Fassade des Reithauses hat ein Konzeptkünstler ein Plakat als Parodie der realsozialistischen Propaganda-Wandtafeln angebracht. Darauf ist ein Max-Frisch-Zitat zu lesen: „Demokratie ist, dass sich die Leute in ihre eigenen Angelegenheiten einmischen.“ Vielleicht sollte man aus der Faustina-Bar frischen Kaffee für die Leute holen.

Marius Meller

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