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Tummelplatz für Punks und Bohème. Besetzte Häuser in Ost-Berlin. Hier in der Kastanienallee 86, kurz nach der Wende.

© imago/ Detlev Konnerth

Die Hausbesetzer der DDR: Schlaflos in Prenzlauer Berg

US-Autorin Isabel Fargo Cole blickt in „Das Gift der Biene“ auf eine kurze Zeit der Wunder. Ein großartiger Nachwende- und Künstlerroman, präzise und elegisch.

Das Internet ist inzwischen 50 Jahre alt, und fast könnte man meinen, dass alles, was wir heute mit ihm verbinden, mit Angst zu tun hat: vor Überwachung, Big Data, Künstlicher Intelligenz, dem Hass in den Sozialen Medien.

Da tut es gut, daran erinnert zu werden, welche Utopien die Menschen einst mit dem Netz verbanden.

Zum Beispiel das Grüppchen ehemaliger DDR-Intellektueller, das sich Mitte der neunziger Jahre in einem herrenlosen „buttergelben“ Haus im Prenzlauer Berg zusammenfindet, dem Schauplatz von Isabel Fargo Coles neuem Roman „Das Gift der Biene“.

Dass zum Beispiel jemand einfach so auf rätselhafte Weise verschwindet, wie der Vater der frisch eingezogenen jungen Malerin Vera Grünberg, werde es nicht mehr geben, glauben die in diesen Tagen erstmals online gehenden Bewohner; jeder werde künftig auffindbar und erreichbar sein.

Und jeder werde im Netz seine „Community“ finden können, auch sie, „die Ostdeutschen“, für die „ja sonst kein Platz vorgesehen“ sei.

Boheme-Milieu der Prä-Gentrifizierungsära

Thorsten, der solch steilen Thesen aufstellende Technikfex der bunten Truppe aus verkrachten Studenten, Ex-Schauspielern und Möchtegern-Künstlern, bastelt sogar schon an einem Startup, einem Webportal für die Ost-Berliner Undergroundszene.

Zu diesem Boheme-Milieu der Prä-Gentrifizierungsära gehört auch der „Salon“ im verwilderten Hinterhof-Gartenhaus, der als Schmuckwerkstatt, Debattierclub und improvisierter Technoschuppen fungiert. Zeitweilig aber auch als Bühne pseudomystischer Erscheinungen.

Letzteres ist der Fall, als die dort waltende Salonière und Judaistik-Studentin Meta anfängt, in dem knietief im Keller stehenden Wasser „mit dem leichten Modergeruch“ Gesichter zu sehen. Und zwar kurz nachdem sie meint herausgefunden zu haben, dass das Haus früher dem Wunderrabbi Mordechai Grynberg gehört habe, was ja so klinge wie „Grünberg“.

Aber nicht nur Meta hat Erscheinungen, sondern fast alle in dem Haus, sogar Coles skeptische Ich-Erzählerin Christina. Ein Fall von „kollektiver Hysterie“ also.

„Glich es einer Spiegelung, einem fernen, umgekehrten Abbild, das sich wieder aufrichtet, scharfstellt, in den Brennpunkt rückt? Oder einem Vexierbild, das sich im Spiegel entzerrt? Lag das Bild auf dem Wasser, darunter, darüber, unter meiner Schädeldecke?

Egal: Stimmen bekamen Gesichter, Gestalten gerieten zwischen meine Hände, so klar, dass die Form des Ganzen genauso greifbar vor mir liegen müsste, sähe ich nur richtig hin."

Hydromantie, Wasserschau, nannte man so etwas früher. Die kurze Zeit der „Wunder“ ist der skurril-fantastische Höhepunkt von Fargo Coles Roman, einer atmosphärisch dichten, wenngleich etwas verworrenen Mischung aus Nachwende- und Künstlerroman, geschrieben in einer präzis-elegischen, leicht spröden Sprache.

Zum kauzig-liebenswerten Personal gehört neben der männerumschwärmten Meta oder dem Büchernarr Wolfgang, der darunter leidet, dass er in seiner Zeit als Grenzsoldat im Harz einen DDR-Flüchtling erschoss, nicht zuletzt Isabel Fargo Coles Ich-Erzählerin.

Die orientierungslose Mittzwanzigerin stammt aus den USA – wie die Autorin, die Mitte der neunziger Jahre nach Berlin kam und sich als Übersetzerin von Wolfgang Hilbig und Franz Fühmann einen Namen machte.

Ihre Protagonistin Christina dagegen forscht dank eines Stipendiums in Ost-Berlin über utopische Entwürfe von Hitlers Germania bis zur Hausbesetzerszene. In der Hausgemeinschaft in der „G…straße“ findet sie ein anregendes Studienobjekt und in Wolfgang einen etwas anstrengenden Liebhaber.

Die Härten des SED-Staates am eigenen Leib erfahren

„Nicht beurteilen, nur beobachten“, lautet Christinas Devise, der sie auch dann noch folgt, als sie bei den abendlichen Salondebatten über Kapitalismus oder den Krieg in Jugoslawien für ihre neuen Nachbarn kurzerhand als Vertreterin des „Systems“ herhalten muss.

Die meisten ihrer Mitbewohner haben zwar die Härten des SED-Staates am eigenen Leib erfahren müssen, dennoch gilt ihnen in der neuen Marktwirtschaft der Sozialismus noch immer als Ideal, nur halt als irgendwie „zu gut für diese Welt“.

„Das Gift der Biene“ – der Titel ist eine William-Blake-Anspielung – ist bereits der zweite Roman von Isabel Fargo Cole.

[Isabel Fargo Cole: Das Gift der Biene. Roman. Edition Nautilus, Hamburg 2019. 224 Seiten, 20 €.]

Vor zwei Jahren debütierte die auf Deutsch schreibende, 46-jährige Autorin mit „Die grüne Grenze“, einem ambitionierten 500-seitigen DDR-Roman, der ihr eine Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse einbrachte. Coles Darstellung des SED-Staates war in ihrer Vielschichtigkeit um einiges überzeugender als die „Republik des schlechten Geschmacks“, die Coles berühmter Landsmann Jonathan Franzen in seinem Weltbestseller „Unschuld“ skizzierte.

Die Hauptfigur von „Die grüne Grenze“, der mit seiner Familie vor der Stasi bis in den Harz fliehende DDR-Schriftsteller Thomas Grünberg, ist übrigens just der verschwundene Vater der jungen, manisch-depressiven Künstlerin Vera, die in der Fortsetzung nach der Wende mit ihren rätselhaften Bildern im Stil der Leipziger Schule ins Gartenhaus einzieht und dort ein überraschend grausiges Ende finden wird.

Leser, die den ersten Roman mit all den verwickelten familiären Verhältnissen und dem sich im Dunkel des Harzes verlierenden Plot kennen, sind klar im Vorteil. Allen anderen könnte „Das Gift der Biene“ letztlich so verschwommen erscheinen wie Metas Wasserschau.

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