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Kultur: Die Heimatfalle

Eine Entdeckung: Willy Cohns „Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums“

Sonntagshitze in Sorau am Rande der Lausitz. Einquartierung Willy Cohns in einer hübschen Villa. Gartenspaziergang. Erdbeeren. Limonade. Zum Vortrag in der Jüdischen Gemeinde erscheinen 35 Personen. Ein routinierter Baritonauftritt, der dem Referenten missfällt („nicht jüdisch genug“). Der 46-jährige Studienrat i. R. spricht herzerwärmend über „Jüdische Erneuerung aus innerer Kraft!“ Das Publikum hat feuchte Augen, als er den Abschied von Kindern erwähnt, die nach Palästina gehen. Erstmals in Sorau überwacht die Gestapo einen solchen Abend. Eintrag am Morgen danach: „Ich mußte mich mit dem übrigens sehr netten Beamten eingehend unterhalten ... Ich schreibe jetzt in einer Bank von wildem Wein, wo ich auch gefrühstückt habe. Dieses Häuschen ist zauberhaft ruhig, ab und zu hörte man einmal die Züge der nahen Eisenbahn.“

So heiter wie am 23. Juni 1935 bleibt die Stimmung selten, wenn der Breslauer Heimatforscher Cohn zwischen 1933 und 1941 Tagebuch führt. Doch solch ein Mix aus Alltagsstichwort, Marginalie und historischem Detail bestimmt viele seiner Berichte. Es kostet Mühe, sich als Leser auf genretypische Wiederholungen, politische Kommentare, Familien- und Lokalereignisse, Selbstappelle und Klagen erst mal einzulassen. Das Konvolut der über 1000 Druckseiten – die gekürzte Wiedergabe von 4600 Manuskriptseiten aus 59 Kladden – offenbart Cohns obsessive Leidenschaften. Er liebt sein Vaterland unbeirrt. Er verficht ein zionistisch geläutertes Judentum. Er hält, Passion Nr. 3, manisch korrekt seine Einträge durch, verwandelt innere Einsamkeit zu Monologen; entschuldigt sich, wenn er mal ausgesetzt hat. Bald empfindet man beim Lesen Beklemmungen – und den Wunsch, diesen Autor wie einen Bewusstlosen in höchster Not zu ohrfeigen. Damit er rette, was zu retten wäre.

Dem Umfang nach ist das Dokument der – seit 1907 kontinuierlich geführten – Cohn-Tagebücher nur mit den als Buch und Film bekannt gewordenen Aufzeichnungen Victor Klemperers zu vergleichen. Aber während für diesen eine spätere Publikation seiner Notizen nicht ausgeschlossen war, schreibt Cohn ungefiltert für sich, erwähnt nur nebenbei, dass Nachkommen einst aus den Heften etwas lernen könnten. Während der konvertierte Rabbinersohn Klemperer nur ein assimiliertes Judentum repräsentiert, steht der Kaufmannssohn Cohn als frommer Synagogenbesucher und Gegner kultureller Vermischung in engagierter Auseinandersetzung mit seinen Glaubensgenossen.

Vor allem aber: Während Klemperer als Ehemann einer „Arierin“ der Deportation knapp entgeht, fehlt bei Cohn das Happy End. Dieses Wissen belastet die Lektüre. Zugleich qualifiziert sein Lebenskontext den kleinen Mann als Identifikationsfigur. 1933 steht der 44-jährige, beliebter Lehrer für Deutsch, Geschichte und Erdkunde an einem interreligiös bewährten Breslauer Gymnasium, auf dem Höhepunkt seiner Anerkennung als Historiker. In der Folge verschlechtert sich seine Gesundheit: Herz, Kreislauf, Nerven. Er hat zwei halbwüchsige Söhne aus erster, zwei kleine Töchter aus zweiter Ehe. Die dritte wird 1938 geboren. Cohn verkörpert den deutschen Juden, der sein Land trotzdem nicht verlässt.

Die Offenlegung dieses Widerspruchs macht den Schrecken seines Vermächtnisses aus. Tagebuch-Herausgeber Norbert Conrads bittet zwar, politisch unkorrekte „Stellen“ nicht hochzuhängen. Doch Cohn selbst hat die eigene „ewige Gespaltenheit“ benannt. Er entfremdet sich seiner dem Patriotismus, der Religion, dem Zionismus abgeneigten Frau Trudi. Während seine Älteste nach der Pogromnacht, November 1938, „von ungeheurer Wut erfüllt“ ist, verbietet der Vater sich selbst jeden Hass. Stattdessen stürzt er in Depressionen oder zerhaut beim Ehekrach an Heiligabend Porzellan. Cohn hat an der Weltkriegsfront seine Erweckung zum jüdischen Nationalismus erlebt. Fragen nach einer Schuld des liberalen Judentums, das den Antisemitismus befördert habe, quälen ihn. Er wählte bis 1933 SPD – und vertraut staatlichen Autoritäten. „Braune Horden“ ekeln ihn an; „Liebe zu Deutschland“ kann er sich „nicht aus dem Herzen reißen“. Er hofft, dass Hitler mit Ausschreitungen der Basis „fertig wird“ (1933), begrüßt „das Verbot der Mischehen vom jüdischen Standpunkt durchaus“ (1935) und will „Lebensraum“ fürs deutsche Volk. „Die Größe des Mannes, der der Welt ein neues Gesicht gegeben hat, muß man anerkennen,“ schreibt er nach der Eroberung Polens. „Edle Kräfte“ im Nationalsozialismus hätten ihn stets angezogen (1939). „Mein Kampf“ enthalte „viele nicht unrichtige Charakterisierungen des Judentums“ (1941). Für sich genommen, verzerrt eine solche Aufreihung Cohns Persönlichkeit. Seine klaren Wertungen der NS-Verbrechen stehen dagegen. Doch nur auf diesem Hintergrund vermittelt sich sein häufig verwendetes Bild von der „Mäusefalle“, in der die Juden stecken.

Januar 1933: 20 203 Juden leben in Breslau. März: Morddrohung gegen den 18-jährigen Sohn Wolfgang, der nach Paris emigriert. Mai: schweißnasser Albtraum Cohns, im KZ Glasdächer ausmalen zu müssen. August: Entlassung als Lehrer „wegen politischer Unzuverlässigkeit“, was künftige Gemeindejobs verhindert. März 1937: Der 16-jährige Sohn Ernst emigriert nach Palästina; Kibbuz-Besuch der Eltern. Trudi will nicht nach Erez Israel übersiedeln, Willy nicht in die USA. Mai: zurück in Breslau; wieder Krankheitssymptome. September: Ein Kibbuz lehnt Cohns Aufnahmeantrag ab. August 1938: Geburt Tamaras. Juli 1939: Verkauf des Elternhauses; Auslandstransfer der Rente genehmigt, Umzugserlaubnis des Erziehungsministers fehlt; Speditionsanfragen. September: Ruth (15) reist mit Zionisten nach Dänemark. Oktober: Cohn bittet die Gestapo um die Gnade, „hier sterben zu dürfen“.

Februar 1940: Deportationen aus dem Reich werden bekannt. April: Besetzung Dänemarks. Das Kibbuz „Maos“ will die Cohns aufnehmen. Juli bis Dezember: Ruths Gruppe gelangt über Moskau, Odessa, Istanbul nach Palästina. September: Meldungen über „Ausrottungspolitik“ in Polen. Dezember: 9175 Juden in Breslau. Januar 1941: Während seiner Forschungen im Diözesanarchiv erhält Cohn Informationen über das „Euthanasie“-Programm. Juni: Das Palästina-Amt in Berlin gibt ihm Empfehlungsschreiben für das neutrale Ausland. Juli: Nachricht über 12 000 ermordete Juden in Lemberg. August: Emigration der Schwiegereltern nach Buenos Aires; „Evakuierung“ Breslauer Juden beginnt. September: Cohns Wohnung wird besichtigt. Oktober: Auswanderungsverbot. Eintrag: Möge es den nach Osten Umgesiedelten „dort einigermaßen gut gehen“. 1. November: Die Wohnung wird zum 1.12. einem Beamten zugewiesen. 12.11.: Brief des Rabbiners Leo Baeck aus Berlin an die Gemeinde, Cohn solle in Breslau bleiben. 15.11.: Massendrucksache an 1000 Breslauer Juden, Wohnungsräumung bis 30.11. Das letzte (erhaltene) Tagebuchheft 112 ist am 17.11. vollgeschrieben. Festnahme am 21.11. Sammellager im Gasthof „Schießwerder“. Am 25.11. Bahntransport. 29.11.: Nach ihrer Ankunft in Kaunas werden Breslauer und Wiener Juden – 1155 Frauen, 693 Männer, 152 Kinder – an einer Grube erschossen, darunter Willy, der zärtliche Vater, mit Trudi, Susanne und Tamara Cohn.

Wer meint, historisch gut informiert zu sein, dem eröffnen die Tagebücher einer Traumatisierung ungeahnte Innenansichten aus der deutsch-jüdischen Mausefalle – jenseits von Guido Knopp. Wen der Surfpatriotismus des WM-Sommers irritiert hatte, dem erschließen sich hier tiefere Abgründe von Vaterlandsliebe. Wem der Vertretungsanspruch deutscher Vertriebenenfunktionäre suspekt ist, der entdeckt einen schlesischen Lokalhistoriker als Heimatvertriebenen der ersten Stunde. Und wer das gefühlte Monopol heutiger Massenmedien auf die Darstellung von Wirklichkeit als totalitär empfindet, der begleite den klugen Zeitungsleser Willy Cohn in die Mühlen der Gewöhnung, Zermürbung, Verdrängung, Selbstverblendung.

Willy Cohn: Kein Recht, nirgends. Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums 1933–1941. Hrsg. Norbert Conrads. 2 Bde., 1121 S., Böhlau Verlag, 2006, 59,90 €.

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