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Kultur: Die Heimsuchung

Laurent Mauvignier erhellt in seinem Roman „Die Wunde“ das französische Algerientrauma

Keiner weiß so richtig, wer wen bei dieser Familienfeier provozierte. Die Wunde, von der nur der Erzähler weiß, woher sie rührt, ist auf einmal aufgebrochen: „Weil Chefraoui da plötzlich vor ihm stand, in sein Blickfeld geraten war“, heißt es in Laurent Mauvigniers Roman „Die Wunde“. Und „weil es plötzlich auftaucht, wie eine seit vierzig Jahren noch zu begleichende Rechnung, ein Menschenalter, und dann ein Blick genügt und man sich sagen muss, nein, es ist nicht vorbei“.

Bernard, das schwarze Schaf der Sippe, ein versoffener Mittsechziger, der mit seiner Hundeschar am Rand eines französischen Provinznests von der Stütze lebt, Bernard also, den alle nur verächtlich Feu-de-Bois, Kaminfeuer nennen, wird nur deshalb bei der Feier geduldet, weil er der Bruder der Jubilarin Solange ist. Sein Präsent übertrifft alles, was man einem wie ihm an Vermögen zugestehen würde. In dem Tumult, der sich daraufhin entwickelt, ist der maghrebinische Freund Chefraoui eher Bernards zufälliges Opfer. Eine Heimsuchung: Er bricht in Chefraouis Haus ein, steht mit Drohgebärden vor Frau und Kindern, lässt einen halb erwürgten Cockerspaniel, Fassungslosigkeit und ein ganzes Register zermürbender Fragen im Dorf zurück.

Fragen, die höchstens Rabut, Bernards Cousin und zugleich Erzähler der Geschichte, zu erhellen weiß – denn beide teilen eine Vergangenheit als Algeriensoldaten. Zwischen 1954 und 1962 tobte ein stummer Krieg zwischen der Kolonialmacht Frankreich und der algerischen Widerstandsbewegung. Die Opfer gingen in die Hunderttausende. Erst hinterher weiß man, worauf man sich als 20-jähriger Rekrut da eingelassen hat: „Noch hast du einen Namen, aber bald schon wirst du nur noch eine Nummer sein, die du auf der Hundemarke um den Hals trägst, das Metall wird dir in der glühend heißen Nachmittagssonne die Haut verbrennen oder sich im Gegenteil eiskalt anfühlen; diese Plakette wirst du nie vergessen, sie ist das erste Geschenk, das die Armee dir macht.“

Eine Passage, die nach Antikriegsroman klingt, doch so leicht macht es sich der 1967 geborene Laurent Mauvignier nicht. Bei ihm gibt es kein Opfer-TäterSchema, sein Thema ist nicht Krieg an sich, sondern der Algerienkrieg, über den man in Frankreich erst seit wenigen Jahren spricht. Mauvignier, dessen Vater 28 Monate im Dienst der französischen Armee stand, vergegenwärtigt den Krieg in „Nacht“, dem längsten Kapitel des Romans, mit außergewöhnlicher Intensität. Indem er die Geschehnisse aus der Perspektive des Cousinpaars Bernard und Rabut erzählt, schafft er eine Re-Aktualisierung des Traumas, deren Schonungslosigkeit man sich kaum entziehen kann.

Ein schmutziger Krieg, von beiden Seiten grausam geführt, wird nicht sauberer, wenn man nicht über ihn redet. Die Wunden kerben sich ein: bei Rabut mit ewiger Schlaflosigkeit und dem Gefühl, sich einen harmonischen Alltag zurechtlügen zu müssen; bei Bernard mit der bösen Parodie aller Zukunftsträume: Er landet nicht in einer eigenen Autowerkstatt, sondern am Fließband, schließlich auf der Straße, nachdem auch seine Ehe gescheitert ist.

Erzählt in minutiös fortschreitender Chronologie, deren äußere Fabel von einem Nachmittag bis zum nächsten Morgen reicht, deren innere Zeitlichkeit jedoch Jahrzehnte verdrängter Geschichtsmomente aufbewahrt, ist „Die Wunde“ eine Parabel über den Krieg, der in den Köpfen weitermacht. Die Traumata aller Kriegsheimkehrer spiegeln sich darin. Afghanistan, so ist immer wieder besänftigend zu hören, sei ja nicht wirklich Krieg, sondern etwas anderes, Humanitäreres. Wer „Die Wunde“ liest, weiß, dass mit ähnlichen Worten bereits der Algerienkrieg beschwichtigt wurde. Jan Röhnert

Laurent Mauvignier: Die Wunde. Roman. Aus dem Französischen von Annette Lallemand. dtv, München 2011. 300 S., 14,90 €. – Der Autor liest am morgigen Dienstag im Berliner Institut Français, außerdem in Hamburg (heute, 26.9.), Leipzig (28.9.) und München (29.9.).

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