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Kultur: Die Hexe spritzt sich Heroin

Tendenzen zeitgenössischer russischer KunstAndreas Hergeth Fast wie im Märchenwald: Es wimmelt von Fliegenpilzen in der ifa-Galerie nur so. Andrei Chlobystin hat das Punktornament auf Gegenstände übertragen, es findet sich auf Haarreifen, Spieluhr, Teller und Tassen.

Tendenzen zeitgenössischer russischer KunstAndreas Hergeth

Fast wie im Märchenwald: Es wimmelt von Fliegenpilzen in der ifa-Galerie nur so. Andrei Chlobystin hat das Punktornament auf Gegenstände übertragen, es findet sich auf Haarreifen, Spieluhr, Teller und Tassen. Man weiß nicht recht, ob sie nun eigens hergestellte Kunstobjekte sind oder doch nur aus einem russischem Kaufhaus stammen. Postkarten mit Kindern in "Fliegenpilz"-Kleidchen zeigen, woher der 38-jährige St. Petersburger seine Inspiration bezieht. Und die erste Seite der russischen Fibel zeigt Abc-Schützen in einer Sandkiste, die von einer Fliegenpilz-Figur überragt wird. Genau so eine Sandkiste mit Pilz steht auch in der Galerie. Der Fliegenpilz-Look ist jedoch alles andere als Spiel. Denn neben einer "Patriotischen Bluse" im Punktornament hängt sein Entwurf einer neuen Flagge für Russland. Wie sieht die richtige eigentlich aus? Da ist man schnell überfragt. Genau darauf zielt Chlobystin ab: "Zum nationalen Symbol taugt die Fahne eindeutig nicht. Die Anordnung der drei Farben wird kaum jemand aus dem Kopf beschreiben können: wo war der rote Streifen, wo der weiße?" In der Computercollage "Neues Moskau" sind im Stil alter Propagandaplakate zwei glücklich lachende junge Menschen zu sehen. Hinter ihnen flattert die Fahne im Wind. Statt Hammer und Sichel zieren viele weiße Tupfen das rote Tuch. Was hier ironisch-subversiv daherkommt, gehört nicht zur staatlich protegierten Kunst Russlands.

Zentrales Thema der Schau "Neues Moskau", von Kathrin Becker kuratiert, ist die Auseinandersetzung zeitgenössischer Künstler aus Moskau und St. Petersburg mit den Problemen, die ihr Heimatland nach dem Zerfall der Sowjetunion hat. Schwierig auch, einen russischen Kulturbegriff neu zu definieren. Es scheint, als ob das heutige Russland vehement versucht, den Sozialistischen Realismus auszublenden und an die Traditionen des zaristischen Russlands anzuknüpfen, um so historische Kontinuität zu basteln. Die mieft nach zaristischem Großrussland und findet Niederschlag im Bereich der Bildenden Künste, was man in der Ausstellung leider nur an einem Beispiel sehen kann (mehr dazu im exzellenten Katalog). Zurab Tsereteli ist einer der Künstler, die totalitäre Ästhetik und zaristisches Kulturerbe miteinander verknüpfen. Er entwarf für Moskaus Innenstadt pompöse und bombastische Monumente zuhauf. Mitglieder der Künstlergruppe "Inspektion Medizinische Hermeneutik" haben Farbfotos der Monumente in Leuchtkästen installiert. Daneben zeichnete Pavel Pepperstein, Jahrgang 1966, mit Tusche eigene Denkmalsentwürfe auf die Wand. Sein amüsantes "Projekt eines Denkmals für die Opfer krimineller Auseinandersetzung" würde nach Moskau ja auch gut passen: Auf einem Felsvorsprung sieht man einen Mann in Trenchcoat zusammengekauert am Boden. Stehend, mit der noch rauchenden Pistole in der Hand, eine Figur im wallenden Gewand und Engelsflügeln auf dem Rücken. Himmlisch angehaucht sind auch die Arbeiten von Timur Novikov. Der 41-Jährige pflegt ein ganz eigenes Ahnenerbe. Auf silbrig schimmerndem und mit Kirchenkreuzen besticktem Tuch zeigt Novikov die Bilder russischer Märtyrer - allesamt einst Zar, Großfürstin oder Patriarch. Das wirkt edel und konträr zu den billigen Heiligenbildchen, der "Konsum-Ikonografie", die sich jeder Russe für ein paar Rubel kaufen kann. Ähnliches Surrogat für die Sehnsucht nach einem besseren Leben sind die Märchen Mütterchen Russlands. Wer kennt sie nicht, die Hexe Baba-Jaga? Vladislav Mamyshev hat sie in die Jetztzeit transportiert und lässt sie in einer Fotocollage mit den Problemen des russischen Alltags kämpfen. Weil der vom sozialen Abstieg vieler Menschen gekennzeichnet ist, spritzt sich die Hexe Baba-Jaga Heroin oder muss sich der Miliz als Lustobjekt feilbieten.

Auch andere Arbeiten verpacken Wahrheiten in ein märchenhaftes Gewand - Kunst ohne Staatsauftrag, die den restaurativen Tendenzen der Kulturpolitik kritisch gegenübersteht: Da liegt die Zarentochter gemeuchelt am Boden. Und der böse Mann in "Das rote Blümchen", der die anderen Leute (Russland) bedroht, kommt als orthodoxer Jude daher.ifa-Galerie, Neustädtische Kirchstraße 12, bis 9. Januar 2000, Dienstag bis Sonntag 14-19 Uhr. Katalog 22 Mark.

Andreas Hergeth

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