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Traumverloren. Ror Wolf. Foto: Jürgen Bauer

© Juergen Bauer, 63849 Leidersbach

Kultur: Die Hölle, das sind die Algen

„Die Vorzüge der Dunkelheit“: Ror Wolf überrascht mit einem illustrierten Horrorroman.

Vielleicht sind im literarischen Kosmos von Ror Wolf die letzten wahren Abenteurer unterwegs. Es sind unerschrockene Männer wie der Forscher Collunder, die in den Hörspielen und Romanen die Sphäre wechseln – unerwartet und zumeist unfreiwillig. Jener Collunder – gesprochen von Christian Brückner, der auch in Wolfs „Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke“ dem Helden den brüchigen Schmelz seiner Stimme verlieh – stürzte an einem beliebigen Augustabend unvermutet ins Erdinnere. Daraufhin hatte er in dem Hörspiel aus dem Jahr 1997 die Tiefe in 13 dunklen Kapiteln zu durchqueren.

Jetzt bricht ein Icherzähler aus dem Bett heraus in die Welt und ihre Fährnisse auf, „Die Vorzüge der Dunkelheit“ preisend. Dieser „Horrorroman“, kündigt er an, werde sein letzter sein. Er schrieb ihn, nachdem er sich einer schweren Operation hatte unterziehen müssen. Die darauffolgenden Halluzinationen sind in den Text eingeflossen. Sie machen ihn noch verstörender, als es Ror Wolfs surreale Erkundungsreisen ohnehin schon sind.

Eine postapokalyptische Einsamkeit umweht seinen Helden, der zuweilen glaubt, sein eigener Körper löse sich auf. Wie immer kontrastiert der Autor solche Bewusstseinszustände mit aufreizend exakten Wirklichkeitsparametern: Daten, Wochentagen, Monaten, Himmelsrichtungen. Sie sollen Normalität und Überprüfbarkeit simulieren, ähnlich wie die Collagen, deren Material aus gründerzeitlichen Konversationslexika stammt. Das erste Abenteuer des Icherzählers beginnt angeblich an einem Mittwoch, so wie jener Forscher Collunder an einem Augusttag ins Erdinnere fiel.

30- bis 40-mal soll der mysteriöseste Autor der deutschen Gegenwartsliteratur bisher umgezogen sein, ausgehend von seinem Geburtsort Rudolstadt in Thüringen. Ror Wolf hegt eine tiefe Leidenschaft für Zahlen und Aufzählungen: 29-mal lässt er nun seinen Icherzähler in eine fremde, entfesselte Wirklichkeit aufbrechen, stets flankiert von verstörenden Collagen, die aus Träumen stammen könnten. Es sind die Falltüren des Bewusstseins, die den Schriftsteller und sein Alter Ego Raoul Tranchirer seit Jahrzehnten beschäftigen.

Zum Geburtstag bringt der Frankfurter Schöffling Verlag, der das Gesamtwerk mustergültig betreut, als besonderen akustischen Genuss die Hörspiele auf einer MP3-CD heraus. Vom Radiohören als inspirierendem „Entzündungszustand“ sprach Wolf 1992, als er den Frankfurter Hörspielpreis erhielt. Seine Hörspielfiguren sind für ihn animierende Stichwortgeber, die auch in den Romanen auftauchen können, wie der Reisende Dr. Q. Vor 30 Jahren widmete der Autor dieser überzeitlichen Figur die Trilogie „Auf der Suche nach Doktor Q.“. „Fußballgeräusche, Enttäuschungsgeschrei“ lautet darin eine wiederkehrende Regieanweiseung. Q. nun taucht im Roman „Die Vorzüge der Dunkelheit“ plötzlich wieder auf.

Er spricht dem zwischen Chicago, London und Olm herumirrenden Icherzähler Mut zu und verschwindet dann wieder. Im Hörspiel „Die überzeugenden Vorteile des Abends“, Teil zwei der Trilogie, lässt der berühmte Reisende Q. 40 fachsimpelnde Botaniker auf sich warten. Die auf engstem Raum versammelten Experten steigern sich bedrohlich in ihre Diskussionen über Farne, glitschige Algen und glibberige Pilze hinein. Sie schwärmen von „fleischigen oder hornigen oder fast holzartigen schwammigen oder beinahe Dings, beinahe fasrigen zuweilen an der Seite mit einer dünnen Schicht bedeckten Strünke …“

In der akustischen Dimension gelingt die erotische Aufladung des Katastrophischen fast noch reizvoller als in der Literatur. Eine entsetzliche Entdeckung aus der Pflanzenwelt jagt die nächste, bis die florale Hysterie zur grünen Hölle eskaliert. In Heinz Hostnigs kongenialer Inszenierung von 1973 sind der Fernseh-Zoologe Professor Bernhard Grzimek sowie die deutschen Stimmen von Stan Laurel und Oliver Hardy zu hören.

In Wahrheit fahndet Ror Wolf bis heute nach Dr. Q. – und das multimedial. Das Wagnis der reinen O-Ton-Collage suchte er schon früh mit zahlreichen Fußball-Hörbildern. Darin spürte er den Wortsprudeln und Sprechritualen der Sportreporter nach, etwa in dem berühmt gewordenen „Cordoba Juni 13.45“. Der legendäre Trainer Erich Ribbeck gestattete ihm sogar Aufnahmen in der Kabine. Sind Hörspiele wirklich so unattraktiv wie öffentliche Verkehrsmittel, wie Wolf einmal in herausfordernder Resignation meinte? Der gerade erschienene Sammelband ist der schlagende Gegenbeweis.

Am Schluss seines Horrorromans konstatiert Ror Wolf, der eigentlich Richard Georg heißt: Manchmal geschehe dies, manchmal das, manchmal überhaupt nichts. Das ist die beste Voraussetzung für sein überraschendes Erzählen und Collagieren, für seine surrealen Anschläge auf die Wirklichkeit in Wort, Bild und Ton, die sich harmlos als „Nachrichten aus der bewohnten Welt“ tarnen.

Als Nächstes hat er übrigens eine Autobiografie versprochen – beim Interview in einem leeren Fußballstadion. Ob man ihm das ausnahmsweise einmal glauben soll?

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