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Kultur: Die Hühner sind die Verlierer der Geschichte

Schluss mit der Demokratie? Der Philosoph Peter Sloterdijk über Europas Krise und den autoritären Kapitalismus

Herr Sloterdijk, Sie setzen sich in Ihren Büchern für die Idee eines postnationalen Europa ein. Zuletzt warben Sie in Frankreich vor dem Verfassungsreferendum für ein „von vielen Neins gesättigtes, entschiedenes Ja“. Ist Ihr Europa nach dem VerfassungsNein und dem gescheiterten Brüssel-Gipfel am Ende?

Ein ganz bestimmtes Europa leistet jetzt seinen Offenbarungseid. Die Referenden haben gezeigt, dass wir in eine neoprotektionistische Phase hineinschliddern, in der die Länder, die am meisten von Europa profitiert haben, sich nachträglich gegen die Osterweiterung zur Wehr setzen. England hat enorm profitiert, die französische Agrarindustrie ist ein einziges europabasiertes Subventionsunternehmen. Die stärksten Nehmer sind jetzt die, die mit überwältigender Mehrheit „Nein“ sagen. Das zeigt, dass gewisse Mechanismen der Bindung an den Versorger nicht mehr funktionieren. Wir haben ein entgeistertes System von transnationalen Verwöhnungsübertragungen aufgebaut, die jedoch weiterhin im Rahmen einer nationalkulturellen Wirklichkeitsaufbereitung rezipiert werden. Das ist das eigentliche Unheil an der Geschichte.

Träumt etwa Großbritannien doch noch vom Empire?

Großbritannien steht in der Tradition einer uralten Europaskepsis, die weit vor die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückweist. Als Churchill von den „Vereinigten Staaten von Europa“ sprach, nahm er nicht an, dass Großbritannien ein Teil davon sein solle, weil Großbritannien ein Universum für sich ist. So wie es aber privilegierte Beziehungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika pflegte, hat Churchill auch zu verstehen gegeben, dass für Großbritannien ein Komplex namens Vereinigte Staaten von Europa ein reizvoller Partner sein könnte, nicht mehr und nicht weniger. Und so blieb es auch nach dem Beitritt Englands in den europäischen Club der gedemütigten Imperien. An dem nordwesteuropäischen Beispiel kann man ablesen, was uns mit den Türken an der orientalischen Front bevorsteht.

Und Blair?

Blair spricht sich für die Aufnahme der Türkei aus, weil damit die politische Unregierbarkeit Europas sichergestellt wird. Auf diese Weise würde die gewünschte Reduktion Europas auf eine Freihandelszone festgeschrieben. Blair präferiert ein Durcheinander von überforderten Nationalstaaten gegenüber einem europäischen Superstaat, dem er aus alter britischer Tradition heraus misstraut. Nichtsdestoweniger haben sich die kontinentalen Kerneuropäer auf den Weg zu einer politischen Integration gemacht. Es könnte sich herausstellen, dass dies ein Weg der Überforderung war. Denn die Europäer lernen die gegenseitigen Sprachen nur zögernd, es gibt zu wenig bilaterale und plurilaterale Kulturarbeit. Der Kulturnationalismus ist nach wie vor eine mächtige Tatsache. Vor diesem Hintergrund ist bewundernswert, was die Brüsseler Bürokraten zu Stande gebracht haben: eine prozedurale Einigung dieses heterogenen Kontinents. Die Bevölkerungen sind jetzt so etwas wie launische Kantone geworden – wir leben, meist ohne es zu begreifen, in einem groß-helvetischen Experiment.

War das französische Referendum ein Formfehler angesichts der chaotisch werdenden Stimmungsdemokratie?

Wenn man nicht glaubt, dass die Stimmung des Volkes so etwas wie der Mund der Wahrheit ist, dann ist ein Referendum ein Fehler, nicht nur ein Form-, sondern auch ein Sachfehler. Brauchen Politiker eine Akklamation, sollten sie vorher Tacheles reden: Die französischen Politiker haben es versäumt, der Bevölkerung klar zu machen, worüber sie eigentlich abstimmen. Sie haben ihr stattdessen erlaubt, wieder mal eine französische Revolution zu inszenieren. Überdies haben sie der Xenophobie eine Gelegenheit geboten, sich in der Tonart des Stolzes zu artikulieren, und das ist ein Novum. Auch viele französische Intellektuelle haben in diesem Spiel eine miserable Figur gemacht.

Werden wir zur Kapitalismusdebatte möglicherweise eine Demokratiedebatte dazubekommen? Müssen wir auf europäischem Hintergrund den Abstand zur direkten Demokratie neu definieren? Auch der Papst beschwört mit seiner Kritik am „Relativismus“ die Optionsmöglichkeit der Mehrheit.

Ratzinger wäre falsch interpretiert, wenn man ihn als Antidemokraten beschriebe. Er plädiert für eine christliche Demokratie. Ich würde das übersetzen in ein Theorem, an dem ich seit längerer Zeit arbeite: Was uns demnach bevorsteht, ist die globale Wende in den „autoritären Kapitalismus“ – und zwar auf der Grundlage eines neo-autoritären WerteDenkens. Ratzingers Visionen lassen sich mühelos in einen solchen Kontext einordnen. Das 21. Jahrhundert wird zum Labor des Neu-Autoritarismus, das heißt des Kapitalismus, der die Demokratie nicht mehr nötig hat.

Plädieren Sie dafür?

Die Tendenz ist natürlich abzulehnen. Man kann nur mit tiefem Bedauern bemerken, wie Zug um Zug Freiheitsspielräume verloren gehen werden. Die aktuelle Situation ähnelt jener der Dreißigerjahre im 20. Jahrhundert, als mehrere Arten des Autoritarismus zur Wahl standen – weltweit. Ich glaube, im Moment erleben die politischen Systeme wieder einen Übergang zu postliberalen Formen. Man hat die Wahl zwischen einem eher parteidiktatorischen Modus wie in China, einem staatsdiktatorischen Modus wie in der Sowjetunion, einem stimmungsdiktatorischen Modus wie in den USA und schließlich einem mediendiktatorischen Modus wie in Berlusconis Italien. Der Berlusconismus ist der europäische Testballon der neo-autoritären Wende.

Und wie fügt sich Westeuropa in dieses Bild?

Die ratlosen und nationalegoistisch abdriftenden liberalen Demokratien in Mittel- und Westeuropa schlingern auf einem unklaren Kurs dahin. Die Gefahr ist groß, dass sich hier eine protektionistische Restdemokratie entwickelt. Wir werden hierzulande sicher keine asiatischen oder russischen Zustände bekommen. Aber je mehr direkte Konfrontation mit China geschieht, desto mehr holt man sich die asiatische Grippe. Die Amerikaner haben sich am meisten angesteckt, sie haben schon alle Symptome eines neo-autoritären „New Deal“ entwickelt. Das Resultat erinnert sehr an Denkfiguren, die wir aus der Zeit zwischen den Weltkriegen kennen, als auch freisinnige Intellektuelle wie Thomas und Heinrich Mann notierten, kein vernünftiger Mensch könne jetzt noch daran zweifeln, dass die Zeit des Liberalismus vorbei sei und nur robuste Maßnahmen noch weiter helfen können.

Was wäre das Gegenmodell zur autoritären Demokratie? Kann der Liberalismus gerettet werden?

Er könnte nur gerettet werden um einen paradoxen Preis, nämlich durch eine Allianz zwischen Demokratie und Askese, das heißt eine freiwillige Hinnahme von Wettbewerbsnachteilen. Das würde bedeuten, es müsste so etwas wie eine großeuropäische Geusen-Politik auftauchen, wie seinerzeit gegenüber dem spanischen Hegemonialanspruch. Die imperialen Spanier wollten im 16. und 17. Jahrhundert ihre Herrschaft bis in die Niederlande ausdehnen. Die entsprechende Résistance – die Geusen – gab den Slogan aus: „Lieber tot als Sklave“, was man übersetzen müsste mit: „Lieber arm als unfrei.“

Darauf dürfte sich kaum jemand freiwillig einlassen.

Wir haben ein halbes Jahrhundert erfolgreicher „bonapartistischer“ Massendemokratie in den Knochen – das Dasein unter der großen Wohlstandsmarkise. Da bewahrheitet sich das Wort aus Büchners „Dantons Tod“ vom Schlaganfall der Revolution: „Ein Huhn im Topf jedes Bauern, und die Revolution kriegt die Apoplexie!“ Folglich sind die Hühner die Verlierer der Geschichte, die Besitzer der Töpfe, in denen die Hühner geschmort werden, haben gewonnen. Sie haben sich für das Huhn ihre revolutionäre Schärfe abkaufen lassen. Ich bezweifle übrigens, dass es sich bei dieser Schärfe um ein bewahrenswertes Gut handelt: Mir geht eine bestimmte Form von habituellem Revoltismus, insbesondere bei meinen lieben Franzosen, unendlich auf die Nerven.

Nach dem gescheiterten Referendum forderten jüngere Intellektuelle in Deutschland eine „Wiedergeburt des Nationalen“. Droht Europa eine Renationalisierung?

Wir haben in Europa längst beides: eine forcierte Renationalisierung und eine ebenfalls forcierte supranationale Integration. Ich glaube, der Antagonismus der Tendenzen wird jetzt bewusst verstärkt. Ich wundere mich, mit wie viel Verspätung einzelne Autoren wieder in den Hafen der Nation einlaufen können, die SPD hat das schon in den Siebzigern vorgemacht. Wollte man Europa wirklich attraktiv machen, müsste man transnationale Solidarsysteme aufbauen: die Versicherungen internationalisieren, ein europäisches Hartz IV und europäische Rentenanstalten einführen. Das würde die Evidenz dafür schaffen, dass die große Herz-Lungen-Maschine des Wohlstands, die den zur Zeit bewusstlosen Sozialkörper am Leben erhält, in allen wesentlichen Punkten mit europäischen Bausteinen gebaut wird. Und das genau erleben die Menschen nicht. Und warum nicht? Weil wir in nationalen Halluzinationskammern eingesperrt sind, der Nationalstaat ist unser Nationalpark.

Europa, ein Museum der Nationen?

Man soll dieses Museum erhalten und ausbauen. Aber die Kuratoren unseres Wohlstandsmuseums müssen echte Europäer sein, selbst wenn die Besucher sich darauf kaprizieren, sich im Deutschland-Saal einzurichten oder im Frankreich-Saal. Die Flucht ins Volk ist immer abschüssig. Wir sind also zur Expertokratie verdammt.

Peter Sloterdijk liest morgen um 20 Uhr im Berliner Ensemble aus seinem neuen Buch „Im Weltinnenraum des Kapitals“ (Suhrkamp, 415 S., 24,80 €) und diskutiert mit Claus Peymann.

Das Gespräch führte Marius Meller.

PETER SLOTERDIJK, Jahrgang 1947, lehrt Ästhetik und Philosophie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Im ZDF moderiert er mit Rüdiger Safranski das „PhilosophischeQuartett“.

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