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Kultur: Die Kaskaden der Fantasie

Kitsch? Trash? Zynismus? Nigel Lowery inszeniert an der Berliner Staatsoper Händels „Rinaldo“ als bonbonbuntes Kasperletheater. Die Lust an Lärm und Farce spaltet das Publikum. Und so ist es auch gemeint

Von Christine

Lemke-Matwey

Nein, keine „Publikumsbeschimpfung“. Aber es gab auch Menschen, die diesen atemberaubend kurzweiligen, tausend Purzelbäume schlagenden Opernabend überhaupt nicht kurzweilig oder atemberaubend fanden. Die keine Miene verzogen, als das liebreizend blonde Christenmädchen Almirena Ende des ersten Aktes ausgerechnet von einem riesigen, dottergelben Stoffküken ins Zauberreich der bösen Armida entführt wird. Die sich im zweiten Akt auf ihren Barockschlips getreten fühlten, als jene böse Armida, um den Kreuzritter Rinaldo zu betören, sich in eben jene liebreizende Almirena verwandelt – und der ganze erotische Zauberspuk darin besteht (genial einfach! einfach genial!), dass die Sängerin A in den vor einer Palmenstrand-Fototapete parkenden Mercedes einsteigt, und die Sängerin B gleich wieder auf der anderen Seite aussteigt.

Und bestimmt stießen sich diejenigen, die sich fast viereinhalb Stunden lang so gar nicht amüsieren konnten oder wollten, auch an dem echten Maulesel, dem Nigel Lowery und Amir Hosseinpour im dritten Akt eine kleine Pappmaché-Rakete umschnallen, und daran, dass aus dem Turm des nunmehr bühnenbeherrschenden Kirchleins plötzlich die Heilige Familie grüßt, Maria, Josef und das Kind. Kitsch? Trash? Blanker Zynismus? Am Ende der Oper und des Krieges steht der Sieg der ach so tapferen Christenheit über die Heiden, der Guten über das Böse, des rechten Glaubens über jede schwarze Magie. Und am Ende dieses Berliner Premierenabends wartete ein selten inbrünstiges Konzert der Buhs und Bravi, der Bravi und Buhs auf das Regieteam.

Was aber ist es genau, das die Gemüter so spaltet und erregt? Warum lachen die einen Tränen und finden sich erfrischt wie nie von Händels Lust an der Farce, von Lowerys Lust am Spiel und von René Jacobs Lust am musikalischen „Lärm“? Und warum klagen die anderen offenbar just das Gegenteil von all dem ein – den Ernst der Lage im Stück (das Libretto lehnt sich an Tassos „La Gerusalemme liberata“ an) wie in Händels Londoner Ästhetik aus dem Jahr 1711, die strengen Gesetzmäßigkeiten des barocken Stils und die klingende Wahrheit hinter allen Affektgebirgen?

Händels „Rinaldo“ ist eine Koproduktion der Berliner Staatsoper mit der Opéra Montpellier und den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik. An keinem der beiden Partner-Orte, die die Produktion bereits im vergangenen Sommer zeigten, war von Skandal, Empörung oder größeren Entrüstungen die Rede. In Berlin soll also wieder einmal alles ganz anders sein? Die erst vor Jahresfrist mit Haydns „Il mondo della luna“ mühsamst wiederbelebte Barockschiene der Lindenoper als sicher geglaubte Bank, der man das Grelle und allzu Experimentelle vielleicht doch lieber verweigerte? Erstaunte, fragende Gesichter auch bei der weither angereisten Prominenz im Saal, von Münchens Staatsintendant Peter Jonas, einem bekennenden Händel-Fan, bis zu der amerikanischen Schriftstellerin Susan Sontag, die gerade ihren 70. Geburtstag in Berlin feierte.

Erster Versuch einer Erklärung: Man unterstellt Nigel Lowery, dass er seine Sache nicht ernst nimmt. Dass er sich einen Jux macht aus dem Kampf des Ritters Rinaldo um das tugendhafte Weltbild und die große tugendhafte Liebe. Dass er auf Kosten auch und gerade der „Feinde“ und morgenländisch-muslimischen „Fremden“ im Stück, der Zauberin Armida nämlich und ihres Geliebten Argante, bloß Gag an Gag an Gag strickt. Und sich darin über die Maßen selbst gefällt. Und den Sturzbach seiner Einfälle lustig sprudeln lässt und sich um gar nichts mehr schert. Mag sein, auf den ersten Blick jedenfalls. Denn Lowery definiert Händels Gotteskrieg vom Stückvorhang an (eine riesenhafte männliche Barbie mit MP im Anschlag) als poppig-comichaft und kindisch-kindlich, und lässt auch immer wieder in einer Art Kasperletheater spielen, in dem ein paar Puppen so lange aufeinander einhauen, bis Köpfchen und Gliedmaßen fliegen.

Der zweite, genauere und geduldigere Blick aber zeigt: Im Nu sind es die Puppenspieler selber, die sich in den Haaren liegen. Und am Ende haben alle, die Guten wie die Bösen, einmal persönlich Hand an die Waffe gelegt. Händels Musik jedenfalls, die den „Heiden“ die weitaus komplexeren, ergreifenderen Arien beschert als den Christen und so alles Schachbretthafte des Plots frühzeitig Lügen straft, sie öffnet uns auf dieser szenischen Folie buchstäblich ihr Herz. Und plötzlich vernimmt man – den fabelhaft mutigen Instrumentalisten des Freiburger Barockorchesters sei Dank! – im Vogelgezwitscher des Liebeswebens immer auch das Rasseln der Kriegstrommel und mitten im ärgsten Kriegslärm den Pulsschlag der Sehnsucht.

Mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit wahrt René Jacobs, Feuerkopf und Analytiker, hier die Balance: immer beredt und im Gestus klar, aber die Dinge niemals überzeichnend, nie nur parodistisch. Und so gerät denn selbst eine eher tränenreiche Nummer wie Almirenas „Lascia ch’io pianga“ – bei allem Ernst, aller Größe! – zum augenzwinkernden Kabinettstückchen. Vor güldenem Vorhang sitzt Almirena alias Miah Persson an der Rampe und lässt ihren blaugrünen Meerjungfrauenschwanz so verführerisch in den Orchestergraben baumeln, dass der treudumme Argante nicht anders kann und sie auf der Stelle lieben muss …

Zweiter Versuch einer Erklärung: Es ist das vermeintlich oder tatsächlich Politische im Stück wie in der Inszenierung, was dieser Tage übel aufstößt. Amerika rüstet sich für einen Krieg gegen den Irak, in Israel sterben die Menschen – und Lowery und sein Co-Regisseur und Choreograf Amir Husseinpour münzen die Wunderwaffe des christlichen Magiers (Dominique Visse) in einen leibhaftigen Selbstmordattentäter um. Von diesem bleiben – Krach, Bumm, Bäng! – nur ein paar blutige Stiefelstümpfe übrig, und schon wird alles, siehe oben, endlich gut.

Eine Lesart, die sich über das Grauen der echten Bilder unbotmäßig erhebt? Wer solches denkt, missachtet die Musik – und das Ensemble, das sich wie aus einem Guss um die jungherb timbrierte, koloraturensichere Silvia Tro Santafé in der Titelpartie schart (Lawrence Zacco als Goffredo, Christophe Dumaux als Eustazio, Noemi Nadelmann als Armida). Andererseits aber unterschätzt er auch Lowerys sybillinische Weisheit, den clownesk-grotesken Tiefsinn der Inszenierung. Wenn sich Armida im Finale des zweiten Aktes zu „Vo’ far guerra“ in einem hinreißenden Danse macabre an ihren eigenen Zaubertränken berauscht und zu einem Cembalo-Solo mit zwei ins Krankhafte auswuchernden Händen um sich schlägt, dann heißt das auch: Krieg fängt immer im Lächerlichen und Harmlosen an. Zeigen wir nicht auf die anderen. Wehren wir unserer eigenen Anfälligkeit.

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