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Kultur: Die Klaviaturen der Macht

Regieren will gelernt sein: Warum die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Vergleich unprofessionell agiert

Von Caroline Fetscher

Von Caroline Fetscher

In New York erzählt man sich gerne Therapeuten-Witze: Zwei Analytiker begegnen einander am Strand von Long Island beim Joggen. Beide bleiben stehen. Der eine sagt zum andern: „You are fine - how am I?“

Auch Niklas Luhmann bedient sich dieser Erkenntnis, dass sich aus einer Außenperspektive besser beobachten und beurteilen lässt, als aus der Innensicht. Er bezieht diese Einsicht auf die Gesellschaft. Als „autopoeitisches System“, sagte Luhmann, könne sie sich kaum ein objektives Bild von sich selbst machen, sondern bleibe stets ein Gemisch aus Wünschen und Projektionen, Ideal und Realität. Das kann gut gehen, solange die Leute in erträglichen Verhältnissen leben. Zum veritablen Hindernis wird die Binnensicht, wenn die Krise kommt.

Nun, die Krise ist gekommen, nach Deutschland. Vorgehalten wird dies der regierenden Sozialdemokratie. Starr und schweigend liegt der Klient auf der öffentlichen Couch, und die Analytiker am Kopfende sind sich uneins. Die Sozialdemokratie ist zu sozialdemokratisch, erklärt der eine, die SPD ist nicht sozialdemokratisch genug, sie macht sich zum Erfüllungsgehilfen des Neoliberalismus, erklärt der andere. Beide Perspektiven, haben ihre Ursache. Kanzler Schröder, der zunächst seine Rolle als Genosse der Bosse suchte, lud ab September 1998 zu Projektionen ein, die ihn wenig sozial orientiert aussehen ließen, während er nach dem September 2002 jetzt als Genosse der Genossen das Gegenteil suggeriert. Am Eindruck des Erratischen, Strudelnden der SPD-Politik wirken beide Haltungen mit.

Die deutsche Gesellschaft hat es besonders schwer, sich von außen zu sehen, denn zweimal in den vergangenen Jahrzehnten befand sie sich in extremen Ausnahmezuständen. Nach dem Dritten Reich war es der einer traumatisierten Gesellschaft, die ihre Vergangenheit leugnete. Nach dem Mauerfall der Zustand einer national euphorisierten Gesellschaft, die ihre Zukunft nicht klar kalkulieren wollte. Mit den Resultaten beider Verdrängungen haben wir es heute noch zu tun. Wirtschaftlich half in der ersten Phase der Marshall-Plan. In der zweiten Phase niemand. Post-war and post-wall period: Beide Male siegten zunächst die Konservativen, bis es post-war zum Aufstand gegen die Verdrängung kam, und post-wall zum Aufstand gegen das Aussitzen angesichts dynamischer Globalisierung. Doch jedesmal scheint die SPD einen kurzen Atem zu haben, sobald sie gewählt wurde. Dann wird sie beschuldigt. Der jüngste Beschwerdeführer, der Historiker Arnulf Baring, der die Debatte einheizte, indem er Populistisches und Konkretes, Erdachtes und Reales vermengte, verriet freilich nicht, was die Bürger, die er „auf die Barrikaden“ rief, dort eigentlich fordern sollten. Sein Text experimentiert mit Aufruhr-Rhetorik, mit Terminologie-Anleihen von der Linken – mit der Form, nicht mit dem Inhalt. In ihrer Rolle als Agitatorin der Reform und als government in waiting hat sich die Sprache der Sozialdemokratie und des Sozialismus über die Jahrzehnte als eine Sprache der Opposition entwickelt.

Halten wir uns vor Augen: Die Bundesrepublik Deutschland kennt weitaus weniger SPD-regierte Phasen (bisher 17 Jahre, darunter fünf in der Großen Koalition) als von Konservativen geleitete. Volle 36 CDU-regierte Jahre zählt die Republik seit Adenauers Wahl zum Kanzler im September 1949. SPD und Gewerkschaften waren vor allem Kommentatoren und Beobachter, sie verkörperten mehr die versprochene Reform als die tatsächliche. Das gehört zu den Dilemmata jeder Sozialdemokratie an der Regierung. Als Advokat der Citoyens erbte sie stets das System der Bourgeoisie.

„Sozialdemokratische Führer in der Regierung illustrieren besonders klar die Grenzen der Reform“, schrieb der britische Politologe Ralph Miliband 1969. „Denn während sie unter ihren Anhängern und vielen anderen große Hoffnungen erwecken, solange sie in der Opposition sind, lassen ihnen die Beschränkungen, mit denen sie zu kämpfen haben, sobald sie an der Regierung sind, verbunden mit den ideologischen Dispositionen, die sie dazu bringen, sich diesen Beschränkungen zu unterwerfen, wenig Raum, ihre Versprechungen zu erfüllen.“ So die These Milibands in seiner Studie „Der Staat in der kapitalistischen Gesellschaft“. Ediert von Jürgen Habermas erschien sie 1972 bei Suhrkamp. Der Denker, den die London School of Economics Ende Oktober posthum ehrte – Anlass war das Erscheinen seiner Biographie („Ralph Miliband and the Politics of the New Left“, Michael Newman, London 2002) – findet unter Englands New Labour-Reformern wie Kritikern wieder Zulauf. Am Kern seiner Analyse hat sich nichts geändert. Denn was, fragen Linke von Akademie bis Attac heute wieder, ist demokratisch an einem System, dessen Wähler sich zwar zwischen Parteien entscheiden, die aber an ihren Arbeitsplätzen mit dem Gegenteil von Demokratie zu tun haben - mit der hierarchischen Macht von Konzernen, Unternehmen, Firmen?

Wann immer soziale, demokratische Reformer an die Regierung gelangen, geht es ihnen darum, diesen Widerspruch zu mildern - doch dazu brauchen sie die Wirtschaft. Schröders Schlingerkurs zwischen den beiden Genossen-Bildern spiegelt eben dieses Dilemma. Er braucht eine Politik, die in beide Richtungen agiert, baut aber keine Brücke von der einen zur anderen.

Grundsätzlich gilt: Es kostet Sozialdemokraten mehr Mut, Vision und Beweglichkeit, an der Regierung zu sein, als Konservative Besitzstandswahrer. Gerade weil ihr Grundanliegen im Widerspruch steht zum „natürlichen“ Gefälle des Kapitalismus, brauchen Sozialdemokraten mehr Geschick zum Regieren, als dessen Apologeten. Sind sie an der Regierung, müssen sie die treibenden Motive aus ihrer Opposition wirklich werden lassen, wirksam. Das erfordert Übung. Redner, Macher, Reformer müssen die politische Musik gut orchestrieren und virtuos spielen können. Tony Blair oder Schwedens Göran Persson etwa beherrschen das. Persson senkte die schwedische Arbeitslosigkeit von 15 auf vier Prozent - unter anderem durch radikale, aber noch erträgliche Einschnitte im Sozialsystem wie das Einführen eines Karenztages bei Krankheit. Er balancierte Bedürfnisse der Interessensgruppen aus, die Schere zwischen den Einkommen klafft in Schweden weniger weit auseinander, sozialer Friede und Gleichberechtigung der Geschlechter gelten als Sollzustand. Allerdings: Schwedens Sozialdemokratie kennt die Kompositionstechnik von Reform und Bewegung. Das politische Orchester ist dort seit 70 Jahren eingespielt, einer Epoche, in der gewaltige innere Brüche fehlten. So wie Kinder in Musikerfamilien selbstverständlich Instrumente lernen, gibt es in Schweden - und fast ganz Skandinavien - große Gruppen in der Gesellschaft, die die soziale und demokratische Tradition weitergeben und weiterentwickeln.

Ähnlich in Großbritannien, wo zwar die Thatcher-Ära mit der Mehltau-Zeit Kohls verglichen wird, es jedoch nie einen Zivilsationsbruch gab, in dem linke Erfahrung verschüttet worden wäre. Hunderte von Jahren aktiver Gebrauch des Londoner Parlaments sorgten für politische Schulung aller Akteure der politischen Szene. Und als Labour wieder ans Ruder kam, ergriff die Partei die Chance. Think-Tanks, in denen die aufgeklärte, junge Elite aus Oxford und Cambridge sitzt, entwarfen Strategien, spin-doctors arbeiteten an Image und Umsetzung. Während Tony Blairs Regierung eine Serie durchdachter Kompromisse zwischen Deregulierung, Privatisierung und Sozialstaat entwickelt, schwankt die deutsche Sozialdemokratie zwischen genossenfreundlich oder anbiedernd gegenüber Unternehmern. Sie arbeitet ohne Think-Tanks, wie die der Briten. Sie wirkt ungeübt. Und es ist kein Zufall, dass Kommentatoren aus Stimme wie Wortwahl Schröders bald Kohl, bald Brandt heraushören – mehr Echo als Original, mehr Nachahmen als Selbstvertrauen. Brandt übrigens, die Galionsfigur der Nachkriegs-SPD, erlebte seine politischen Lehrjahre in Skandinavien.

Was tun? Selbst-Bewusstsein kommt vor der Vision. Und: In einer politischen Landschaft ohne Musiktradition kann man Musikschulen gründen. Die deutsche Politik braucht mehr Think-Tanks als Kommissionen. Weder Citoyen noch Bourgeois geben den Ton an, beider Traditionen fehlen. Die in allen Parteien inzwischen vom Kleinbürgertum geprägte deutsche Politik könnte ihren Mangel an Souveränität und Tradition durch gezielte Nachschulung ausgleichen lernen. Und: In Deutschland bräuchte man eine „School of Good Governance“, an der Politiker trainiert werden. Vielleicht sollten deutsche Sozialdemokraten innerlich den europäischen Nachbarn in Schweden und Großbritannien die Frage der Analytiker von Long Island stellen: You are fine – how are we?

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