zum Hauptinhalt
Schön artig bleiben. Im Museum werden historische Unterrichtsstunden abgehalten. Inklusive Rohrstock – natürlich gespielt.

© ddp

Die kleinen Großen (4): Die Maus lernt lesen

In Reckahn bei Brandenburg wurde vor 200 Jahren das moderne Schulsystem erfunden. Ein Museum erinnert daran.

In Berlins Umgebung gibt es zahlreiche Museen mit ungewöhnlichen Sammlungen: Anlass für sommerliche Tagesreisen zu den „kleinen großen“ Kunst- und Ausstellungshäusern. Bisher stellten wir das Jagdschloss Schorfheide (10. 7.) vor, die Franckeschen Stiftungen in Halle (16. 7.) und das Ofenmuseum in Velten (26.7.).

Frustriert wird er gewesen sein, an jenem Februartag 1772. Seit zwölf Jahren bewirtschaftet Friedrich Eberhard von Rochow die Güter seiner Familie, doch die Bauern sträuben sich gegen Neuerungen. Rochow sitzt am Schreibtisch, und zeichnet einen Löwen im Netz: Die Vernunft, verstrickt in „ein Gewebe von Vorurteilen und Unsinn“. Ach, wünscht sich der Gutsherr, „wenn doch eine Maus wäre, die einige Maschen dieses Netzes zernagte, vielleicht würde dann dieser Löwe seine Kraft äußern und sich los machen können“. Was könnte man bewirken, wenn man den Bauern ordentlich bilde. Rochow fasst einen Entschluss: „Ja! Ich will die Maus sein. Gott helfe mir.“

Er ist keine Maus gewesen, dieser heute fast vergessene preußische Reformer, der auf Gut Reckahn bei Brandenburg eine Neuerung erprobt, die europaweit Aufsehen erregt. Eine kleine Dorfschule baut Friedrich Eberhard von Rochow 1773 neben die ebenfalls von seiner Familie gestiftete barocke Kirche, es ist ein helles, eingeschossiges Gebäude mit einem einzigen Schulraum, doch mit großen Fenstern, im Dach eine Wohnung für den Lehrer. 900 Taler kostet der Bau, und auch der Lehrerposten ist mit 120 Talern pro Jahr großzügig dotiert. „Es gehört viererlei dazu, dass eine Volksschule gut sein kann“, wusste von Rochow: „1. ein guter Lehrer. 2. eine gute Schulordnung. 3. ein zweckmäßiges Schulhaus. 4. ein hinreichendes Gehalt für den Lehrer.“

Zweckmäßig ist das Schulhaus, zweckmäßig auch die Aufteilung der Kinder in zwei Altersklassen: morgens die Klassen 5 bis 8, nachmittags die Klassen 1 bis 4. Bis zum 14. Lebensjahr sollte jedes Kind in die Schule gehen. „Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht“, das Zitat aus dem Markusevangelium steht am Giebel, das wird durchaus auch an die Eltern, die Bauern gerichtet gewesen sein, die die Kinder lieber auf dem Feld wussten als in der Schule.

Doch nicht nur Kinder kommen, gleich zu Beginn 58 Kinder aus dem Dorf, auch tausende Besucher aus aller Welt strömen nach Reckahn, um das Schulwunder zu besichtigen. Das Besucherbuch, das der Schullehrer Heinrich Julius Bruns persönlich führt, verzeichnet etwa im Februar 1777 fast täglich einen Besucher.

Seit 1992 ist das Schulhaus ein Museum. Die Originalausstattung ist nicht erhalten, einst saßen Jungs und Mädchen im rechten Winkel, ordentlich getrennt. Heute zeigt die Schulstube den Zustand von 1915, Holzbänke, Tafeln mit Sütterlinschrift. Beliebt sind die historischen Schulstunden, die erlebbar machen, wie es war, vor hundert Jahren in die Schule zu gehen.

Dass die Schulreform nicht das einzige pädagogische Projekt des umtriebigen Gutsherren war, erfährt man im benachbarten Schloss. Hier informiert seit zehn Jahren das Rochow-Museum über Leben und Wirken des Reformers, in durchaus geglückter multimedialer Form. Das beginnt im Gartensaal mit einem Gespräch über Aufklärung, Gipsbüsten stehen im Kreis, die Stimmen kommen vom Band, es wird diskutiert, ob die Bauern nicht aufsässig würden, wenn sie gebildet würden. „Vernunft fürs Volk tut Not“, widerspricht Rochow heftig: „Nur wer des Sprechens kundig ist und aufmerkt, kann etwas verstehen.“ Die Texte sind kompiliert aus Briefen, die Rochow und seine Frau Christiane Louise mit Schulminister Karl Abraham von Zedlitz und Leipe und dem Dessauer Fürsten Leopold Friedrich Franz gewechselt haben. In dem Gartensaal versammelten sich damals Pädagogen, Minister, Philanthropen, um über Bildung zu diskutieren.

Rochow war nicht nur Schul-, sondern auch Agrarreformer, nicht nur die Kinder wollte er bilden, sondern auch seine Landarbeiter. Und wusste doch: „Der Bauer kauft nicht gerne Bücher.“ Nur den Bauernkalender, den studiere er, weshalb Rochow darin seine „märkischen Bauerngespräche“ veröffentlicht, in denen es um die Maulbeerzucht geht oder ums richtige Pflügen. Der Gutsherr schrieb über die Ursache von Feuersbrünsten, schlug vor, die Wagenspurbreite zu normieren und wollte einen Kaffeeersatz aus heimischen Kichererbsen gewinnen. Und er schrieb eine Prämie auf die Entwicklung eines idealen Pfluges aus. Als die Ergebnisse nicht befriedigend waren, wurde das Preisgeld kurzerhand für die Abfassung eines Tierarzneibuchs verwendet.

Rochows erfolgreichste Schrift jedoch, in vielen Auflagen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts in ganz Deutschland verbreitet, ist „Der Kinderfreund“, sein Lesebuch für den Schulunterricht, das in Form von moralischen Erzählungen Lebensweisheit vermitteln sollte. 50 Exemplare standen in Reckahn kostenlos zur Verfügung. Lehrer Bruns fragte den Stoff in Form eines Katechismus ab.

Heinrich Julius Bruns, den Rochow in Halberstadt kennenlernte und als Schreiber und Musiker auf sein Gut holte, bevor er ihn zum ersten Dorfschullehrer machte, begegnet man in Reckahn gleich zweimal. Rosenumrankt liegt sein Grab an der Kirche, zwischen Schule und Schloss. Und eine schlichte Urne im schönen Park erinnert an den früh an Schwindsucht gestorbenen Pädagogen. „Er war ein Lehrer“, verkündet die Aufschrift. Es dürfte das einzige Denkmal Deutschlands für einen Dorfschullehrer sein.

Rochow-Museum und Schulmuseum Reckahn, Di–Fr und So 10–17 Uhr, Sa bis 18 Uhr. Am 21. August wird in Reckahn das zehnjährige Bestehen des Museums mit einem historischen Schulfest gefeiert. In der Woche davor ist das Haus geschlossen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false