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Kultur: "Die kleinere Hälfte der Welt": Alissa Walsers Erzählungen über das Spiel der Frauen

Die Geschichten der Alissa Walser sind von geradezu aufsässiger Anzüglichkeit. Immer wieder wird eine bestimmte Empfindung evoziert: das Gefühl einer plötzlichen, unverdienten Überlegenheit.

Die Geschichten der Alissa Walser sind von geradezu aufsässiger Anzüglichkeit. Immer wieder wird eine bestimmte Empfindung evoziert: das Gefühl einer plötzlichen, unverdienten Überlegenheit. Ihre reinste Form findet sie im Machtgefühl, das junge Mädchen befällt, wenn sie entdecken, dass man sie als Frau wahrnimmt: "Mr. Waterhouse sah mich voller Neid an, gleichzeitig aber auch so, als sei er mir völlig ergeben. Solche Blicke bekommt man, wenn man um die vierzehn ist, langes Haar hat und glaubt, man könne weder sterben noch erwachsen werden."

Dieser Mr. Waterhouse ist nicht irgendwer, sondern ein amerikanischer Kammersänger, Nachbar der Familie, und, was am meisten zählt, der Liebhaber der Mutter. Prompt geht die Tochter mit ihm ins Bett und genießt das doppelte Machtgefühl: von einem erwachsenen Mann in all seiner Lächerlichkeit begehrt zu werden und die Mutter mit ihrem Liebhaber zu betrügen. Der größte, ja vielleicht ist der eigentliche Genuss, ihr davon zu erzählen, zehn Jahre später zwar, aber mit herablassender Schärfe, einschließlich aller Details.

Die sieben Erzählungen dieses Bandes handeln von Machtkämpfen. Und oft stehen am Anfang zwei Personen, meist Frauen, die sich eigentlich einig sind. Sie wirken, als wären sie beide aufs gleiche Gleis gesetzt - wie eine Lokomotive, die gegen etwas anrollt -, aber plötzlich beginnt ein Wettlauf, ein Konkurrenzkampf, der alles durcheinander bringt.

Zwei Mädchen lieben es, per Anhalter zu fahren. Nicht nur, um die Siedlung zu verlassen, diese "eingezäunte Spiellandschaft mit zuckerverklebten Kindern und Müttern und ihren Neuigkeiten, die nie welche sind", sondern auch des Abenteuers, der Herausforderung wegen. Es kommt ihnen auf den Kitzel an, auf das Gefühl, ein Risiko einzugehen und dieses Risiko zu beherrschen, beispielsweise mit Sätzen wie "Wir haben ein Gespür, bei wem man einsteigen kann. Wir fahren nicht mit jedem mit." Doch eines Tages beendet die Freundin das Spiel. Ohne Zwang gibt sie sich dem Fahrer hin, während die Erzählerin ausgeschlossen bleibt und nicht einmal weiß, ob sie Hilfe holen soll. Das zeigt die Raffinesse der Autorin. Während die Geschichte auf den fast unvermeidlichen Gewaltakt zuzusteuern scheint, findet die eigentliche Verletzung anderswo statt: im Vertrauensbruch der Freundin, die ohne Absprache die Spielregel umgeht. Und die hieß: "Nichts zurücklassen als das stille Verlangen in den Augen der Fahrer."

Dieses Verlangen erwecken zu können, bedeutet zwar für ein junges Mädchen ein unerwartetes Machtgefühl, Alissa Walser aber ist eine erwachsene Frau (die sich das Emblem, eine der drei schreibenden Töchter Martin Walsers zu sein, nur noch von Geburts wegen gefallen lassen muss). Deshalb sieht sie mehr als die kindlichen Protagonistinnen ihrer Geschichte. Sie sieht den Zeitdruck des Fahrers und weiß, dass seine Begierde weit mehr von der Angst vor beruflichem Versagen in Zaum gehalten wird als von den vermeintlich gewieften Sprüchen der Mädchen.

Der Zusammenhang von Sex und Ökonomie interessiert die Autorin. Nicht nur dort, wo beides in Widerstreit gerät, sondern auch dort, wo das eine das andere bedingt. Die Erzählung "Goldene Nägel" handelt von zwei Frauen, die sich, Profi die eine, Studentin die andere, von Männern fürs Wochenende kaufen lassen. Auch diese Frauen geraten sich schließlich in die Haare.

Im Lauf des Bandes schält sich immer deutlicher eine Frauenfigur heraus, die den erzählerischen Furor dieser Autorin geradezu versinnbildlicht: Es ist Penthesilea, die Königin der Amazonen, hin und her gerissen zwischen der streng reglementierten Form ritueller Liebe und dem unbedingten Glücksanspruch individueller Zuneigung. Wie bei Kleists Penthesilea reimen sich auch bei den Heldinnen Alissa Walsers "Küsse" und "Bisse". So wird dem Kunst-Professor, der es wagt, während er sein (eheliches) Kind hütet, der geschwängerten Geliebten mal schnell am Handy zur Abtreibung zu raten, ein kleines Paket vor die Tür gelegt: in Empfang genommen von seiner Frau, überreicht von seinem schwarzhäutigen Nachfolger, enthält es den abgetriebenen Fötus. Der soll, nach dem erklärten Willen der Ex-Geliebten, das Glück des ersten Kindes nachhaltig zerstören.

Alissa Walser erhielt für ihre Erzählung "Geschenkt" 1992 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Der 1994 folgende Band, "Dies ist nicht meine ganze Geschichte", war nicht so stark wie der prämierte Text. Nun aber, mit "Die kleinere Hälfte der Welt" hat Alissa Walser ihre Stimmlage und ihre Form gefunden. Alissa Walser, die in New York und Wien Malerei studierte und in Frankfurt am Main lebt, versieht ihre Erzählungsbände mit irritierenden kleinen Zeichnungen: merkwürdige Vignetten der Liebe, ineinander verschlungene, verzerrte Körper, Vexierbilder, die zugleich als flüchtig gezeichnete Tierköpfe erscheinen, befremdend organisch, wie von Kinderhand, Bilder der Verletzlichkeit und Verwundung.

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