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Kultur: Die Köpfe sollen sprechen

„Idomeneo“ und die Folgen: Bilderverbote beleidigen die muslimische Welt / Von Daniel Barenboim

Die Absetzung der „Idomeneo“-Vorstellungen an der Deutschen Oper Berlin wirft die existenzielle Frage nach unserer Wahrnehmung der muslimischen Welt auf – eine Frage, der wir uns bislang kaum gestellt haben. Ich kenne die Inszenierung nicht und vermag sie daher auch nicht zu kommentieren. Die vorläufige Absetzung aber wurde damit begründet, dass das Stück Elemente enthalte, die Menschen verletzen oder beleidigen könnten – Menschen, die nicht einmal „gezwungen“ sind, sich diese Aufführung anzusehen. Zweifellos ist es die Pflicht einer Regierung, ihre Bürger vor den Gefahren von Gewalt und Terrorismus zu beschützen. Aber ist es die Pflicht eines Theaters, sein Publikum vor künstlerischen Aussagen zu bewahren, die als beleidigend interpretiert werden könnten?

Mit Kunst und den Assoziationen, die sie weckt, verhält es sich wie mit Sein und Schein: Viel zu oft verändern wir den Gehalt einer Sache zugunsten ihrer Wahrnehmung. Natürlich bleibt das Erleben von Kunst immer individuell und subjektiv, das ist das Vorrecht eines jeden. Unsere Assoziationen lassen sich nun einmal nicht bestimmen. In der Musik ist der Unterschied zwischen Inhalt und Wahrnehmung durch die gedruckte Partitur gegeben. Die Regie dagegen kennt keine Partitur. Die Verantwortung für das künstlerische Handeln liegt allein beim Regisseur.

Gesellschaftlich gesehen erfüllt das Theater seine Funktion, indem es sich in einem permamenten Dialog mit der Realität befindet, und zwar ungeachtet seiner Auswirkung auf tatsächliche reale Begebenheiten. Eine solche Form des Dialogs signalisiert weder besonderen Mut noch besondere Feigheit, er resultiert zunächst aus der individuellen oder institutionellen Notwendigkeit, sich auszudrücken. Diese Freiheit des Ausdrucks aus Angst einzuschränken, ist ebenso unwirksam wie die eigene Meinung mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Kunst ist weder moralisch noch amoralisch, weder erbaulich noch anstößig; es ist unsere Rezeption, die sie dazu macht.

Dabei wird das kontroverse Denken in unserer Gesellschaft mehr und mehr als negative Eigenschaft angesehen – obwohl in der entgegen gesetzten Meinung, in der Differenz zwischen Inhalt und Wahrnehung erst die Wurzel aller Kreativität liegt. Inhalte können manipuliert werden; unser Sehen und Hören erst recht. Indem wir uns aus Angst, einer bestimmten Gruppe von Menschen zu nahe zu treten, so etwas wie künstlerische Selbstzensur auferlegen, beschränken wir das menschliche Denken nicht nur statt es zu erweitern, nein, wir beleidigen sogar die Intelligenz vieler Muslime: Wir berauben sie der Möglichkeit, die Reife ihres Denkens zu demonstrieren. Das ist das exakte Gegenteil eines interkulturellen Dialogs. Und es ist die Konsequenz aus unserer Unfähigkeit, zwischen den vielen verschiedenen Standpunkten in der muslimischen Welt zu unterscheiden.

Kunst hat nichts mit einer Gesellschaft zu tun, die – wie ich es nennen möchte – gewisse Intelligenzstandards verweigert. Standards, die uns die alten Griechen gesetzt haben und die wir bis heute öffentlich akzeptieren. Kunst hat auch nichts mit einer Gesellschaft zu tun, die glaubt, sich mit political correctness aus allem heraushalten zu können. Das politisch Korrekte nämlich ist vom Fundamentalistischen in seinen diversen Manifestationen kaum verschieden. Beide halten Antworten bereit: nicht um das Verständnis zu vertiefen, sondern um Fragen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Aus Furcht handeln bedeutet also weder, die Fundamentalisten zu beschwichtigen (die gar kein Interesse daran haben, sich beschwichtigen zu lassen) noch den aufgeklärten Moslem in seinem Bestreben nach Dialog und Fortschritt zu bestärken. Stattdessen isoliert eine solche Handlungsweise alle Muslime, indem sie sie nicht zu Partnern in der Konfliktlösung macht, sondern selbst zum Bestandteil des Problems erklärt.

Dieser verheerende Mangel an Differenzierung verletzt unsere Gesellschaft – und lässt sie gleichzeitig verarmen. Fruchtbare Elemente werden ausgeschlossen, die Saat der Angst geht auf in einen Wald von Panik. Indem unsere Gesellschaft sich diesen existenziellen Dialog selbst vorenthält, entfremdet sie Menschen, deren friedliche Kooperation für eine gewaltlose Zukunft unverzichtbar ist.

Vielleicht bräuchte die muslimische Welt ein modernes Äquivalent zu Spinoza, der das jüdisch-christliche Denken auf den Begriff brachte, obwohl (oder weil) er außen stand und dieses Denken oftmals sogar negierte. Vielleicht würde ein moderner Spinoza in der Lage sein, den Islam zu erklären. Die Entscheidung, „Idomeneo“ vorerst nicht mehr zu spielen, jedenfalls bekennt sich dazu, nicht differenzieren zu wollen zwischen den Aufgeklärten und den Extremisten, den Intellektuellen und den Dogmatikern, zwischen den kulturell Interessierten und den Engstirnigen welcher Herkunft und welcher Religion auch immer. Denn die Weigerung, gewisse Bilder öffentlich zu zeigen, ist Ausdruck genau jener Angst, die uns die gewalttätigen Elemente der muslimischen Welt einflößen wollen.

Ich habe diese „Idomeneo“-Inszenierung nicht gesehen, wie gesagt. Aber ich kann nur hoffen, dass die abgeschlagenen Köpfe von Jesus, Mohammed und Buddha für Hans Neuenfels eine absolute innere Notwendigkeit darstellen, diktiert von Mozarts Partitur. Vielleicht hätte er die Köpfe sprechen lassen sollen, damit sie für die Anerkennung jener großen Weisheit und Gedankenkraft werben, die sie gemeinsam repräsentieren.

Der Autor ist Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper.

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