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Kultur: Die Kunst der Fugen - Ost-West-Erinnerungen

Am liebsten würde sie von ihrem Handy aus Faxe und Mails an die Freunde in aller Welt verschicken. In der alten Bauhaus-Wohnung in Berlin-Weißensee, in der ich sie besuche, verbindet sich wohlig-antiquierte Lesekultur mit moderner Kommunikationstechnik.

Am liebsten würde sie von ihrem Handy aus Faxe und Mails an die Freunde in aller Welt verschicken. In der alten Bauhaus-Wohnung in Berlin-Weißensee, in der ich sie besuche, verbindet sich wohlig-antiquierte Lesekultur mit moderner Kommunikationstechnik. In ihrer Technikbegeisterung ganz Kind des Ostens, scheint sie unbeleckt vom zivilisationskritischen Rumor der Altachtundsechziger."Globalisierung" beispielsweise ist für sie kein Begriff aus dem Wörterbuch des Unmenschen, er bedeutet eine Chance. Sie habe, heißt es in ihrem autobiografischen Bericht "Mauerblume. Ein Leben auf der Grenze", erst in San Francisco richtig begriffen, "dass ich unendlich viel versäumt hatte in dem Sicherheitstrakt des ersten Arbeiter-und-Bauernstaats, in dem ich mich gemütlich eingerichtet hatte".

Ostopa und Westopa

Schuld daran war die Mauer - in ganz spezifischer Weise. Denn vor ihrem Bau lebte das 1944 geborene "Kriegskind" Rita ein Leben der "Zonensprünge". Im Westen bei ihrer großbürgerlich-musischen Großmutter am Schlachtensee nahm sie Klavierunterricht und bereitete sich aufs Konservatorium vor; im Osten lebten die Eltern und der "Ostopa", der für den "Westopa" der Feind war, weil in der SED organisiert und russenfreundlich; und umgekehrt war auch der CDU-Großvater im Osten wenig beliebt. So wechselten für das Kind mit den Zonen die Feinde, und die Grenze wurde zur Demarkationslinie seines jungen Lebens.

Verbunden blieben die Welten zunächst durch die Berliner Ringbahn und die Musik. Die Kunst der Fuge wurde für die heranwachsende Musikerin nicht nur eine künstlerische, sondern auch eine biografische Herausforderung. Bis die Mutter die Siebzehnjährige an einem Sommerwochenende nach Ost-Berlin zum Segeln holte. Noch nach fast vierzig Jahren fragt sich die Tochter, ob ihre Mutter als SED-Kader vom Bau der Mauer gewusst hatte. Jedenfalls änderte sich an jenem 13. August 1961 das Leben der jungen Frau: Sie wurde definitiv Ostdeutsche.

Doch lediglich auf dem Papier, in der ersten sozialistischen Republik kam Rita Kuczynski nie wirklich an. Sie habe, schrieb die Schriftstellerin kürzlich in einem Essay, nie Ostdeutsche sein wollen, auch keine Westdeutsche, sondern eben nur Deutsche, doch als Kind habe sie die Brisanz dieses Wunsches nicht begriffen. In der DDR der sechziger Jahre flüchtete sich die begabte Pianistin zunächst in die Musik, in der sie Erlösung von der Spannung, Auflösung der Widersprüche suchte. Nervenzusammenbrüche, denen ein längerer Aufenthalt in der Psychiatrie, ein Selbstmordversuch und der Bruch mit ihrer Familie folgten, setzten dieser Karriere ein frühzeitiges Ende.

Wenn sie sich heute eine Biographie wünschen könnte, erzählt die Schriftstellerin, dann die einer Musikerin. Das hätte es ihr leichter gemacht, die extremen Situationen, in denen sie lebte, auszuhalten, statt sie "kontrapunktisch aneinander vorbei zu führen und nach einem Grundton zu suchen". So aber trieb sie in den sechziger Jahren durch ein fremdes, ihr äußerlich bleibendes Land, zwischen Alex, dem ersten Ehemann, der Gelegenheitsarbeit in der Glühlampenfabrik Narva und den brennenden Fragen nach dem Sein. Diese führten sie zur Philosophie - und zu den Kindern der in die DDR zurückgekehrten prominenten Antifaschisten: "Ich kam gar nie wirklich in der DDR an, denn ich hatte früh mit jüdischen Intellektuellen und ihren Kindern zu tun: Mein Lieblingsprofessor war Jude und meine beste Freundin. Und später gab es die jüdische Familie Kuczynski." Die Distanz der antifaschistischen Kinder zur DDR-Normalität und deren gleichzeitige unbedingte politische Hingabe wirkten magnetisch auf die mentale Streunerin: "Diese Kinder hatten viel mit dem Glauben zum Sozialismus zu tun, aber wenig mit der DDR."

Keine Gelegenheit zum Glauben

"Was mich betrifft", so Kuczynski im Rückblick, "empfinde ich eine lebenslängliche Trauer darüber, keinen Glauben haben zu können. Ich konnte nicht an Gott glauben, nicht an das Kommunistische Manifest und bisher auch an kein esoterisches Phänomen. Die Gottlosigkeit im wahrsten Sinne macht das Leben schwer." In den frühen siebziger Jahren glaubte die Studentin und selbst noch die ausgebildete Philosophin an den absoluten Geist von Hegel und seine mehrwertige Logik, die das von Kindheit an eingeübte Freund-Feind-Prinzip, das Kalkül des "entweder-oder" aufzulösen imstande schien. "Eine allumfassende Theorie", heisst es in Mauerblume, "gleich einer Weltformel Einsteinscher Weite mit der Genauigkeit der Heisenbergschen Unschärfe-Relation für die Randbedinungen im theoretischen Feld." Heute lacht sie darüber: "Ich dachte, so wie man die richtigen Töne, die richtige Melodie findet, brauche man nur eine gute Theorie, dann würden alle Menschen gut."

Mit Politik hatte sie allerdings wenig im Sinn, sie schien der angehenden Philosophin "ordinär". Vor den studentischen Ernteeinsätzen und Massenaufmärschen drückte sie sich; doch als Absolventin stellte sie einen Aufnahmeantrag in die Partei. Drei Jahre lang verharrte sie im Kandidatinnenstatus, bis die Partei endgültig auf sie verzichtete. In diese Zeit fällt ihre Bekanntschaft und Liebe zu Thomas Kuczynski, den sie Emanuel nennt. Dass er der Sohn von Jürgen Kuczynski ist und damit Abkömmling der DDR-Geisteselite, die in der DDR eine außerordentlich privilegierte Position einnahm, wusste sie, wie sie versichert, vor ihrer Heirat noch nicht, sonst hätte "mein Ex-Mann es wohl sehr schwer gehabt mit mir." Von heute aus betrachtet ist diese Ignoranz kaum zu fassen, doch sie spricht für die "politische Absenz" der Philosophin, die sich völlig in den geistigen Elfenbeinturm zurückgezogen hatte. Weshalb sollte sie sich für den berühmten Wirtschaftshistoriker und Redenschreiber Honeckers interessieren, wo doch die DDR-Realität weitgehend an ihrem Leben vorbeiging und der Prager Frühling ihren historischen Pessimismus noch verstärkt hatte?

Mit der Einheirat in "die Familie" veränderte sich Rita Kuczynskis Leben ein weiteres Mal grundlegend. "Für mich war sie der erste Ort in Ostdeutschland, wo ich Sicherheit bekam. Die Familie half, sie gab mir Schutz, und ich war von meinem unsteten Leben seit 1961 physisch und psychisch ziemlich fertig." Das Leben in der Rolle als "die Kuczynski" in der Nomenklatura der DDR bildet den wichtigsten Teil ihres Erinnerungsbuches: Er gibt nicht nur Auskunft über das Leben einer "Schwiegertochter" in einem berühmten Clan, sondern vermittelt luzide Einblicke in die Kompromißfähigkeit der DDR-"Avantgarde", ihre Integrationsfunktion für den Staat und die zunehmende "paranoide Grundstimmung" im Land.

Der Stachel des verweigerten Protests

"Ich habe jahrelang darüber nachgedacht, warum ich in der DDR geblieben bin", erklärt die Autorin. Es war der Kompromiss mit der Familie, die sie nicht verlieren wollte: "Ohne den Mann, den ich liebte, ohne die Familie, wäre ich spätestens 1976, nach der Biermann-Ausbürgerung, weggegangen." Es ist ihr anzumerken, dass dieser verweigerte Protest ein Stachel bleibt.

Die Biermann-Ausbürgerung und die intellektuellen Zustände an der Akademie der Wissenschaften, die zunehmende Zensur und Selbstzensur, die das "Schlupfloch Hegel" obsolet machten, führten schließlich zu Kuczynskis Rückzug ins Private: Sie habe ihre privilegierte Stellung paradoxerweise dazu genutzt, in der DDR keine Karriere machen zu müssen. Dafür hielt sie innerhalb der Familie den Mund, spielte die politisch Dumme. Es schien ein idealer Kompromiss, der 1989, wenige Monate vor der Wende, mit dem Umzug in das einstige Domizil Wieland Herzfeldes in Weißensee noch einmal festgeklopft wurde.

Mit der Wende liess sich die Abmachung des Ehepaares, "über Politik nicht zu reden", nicht mehr aufrecht erhalten: "Hätte ich gewusst, dass diese Ehe einmal zu Ende gehen würde, hätte ich mich früher zum Weggehen entschlossen." Auf die Frage nach der Metamorphose von der "unpolitischen Schwiegertochter" zur politischen Kolumnenschreiberin, die Rita Kuczynski heute auch ist, lacht sie: Die Rolle, die ihr damals angedient worden war, sei auch bequem gewesen, sie habe dieses Klischee freiwillig bedient. Ihre lebenslange Suche nach dem "Grundton" hat die Schriftstellerin auch heute nicht aufgegeben. "Das ganze Leben klingt", sagt sie, "für mich ist Schreiben eine andere Form der musikalischen Transponierung." Und eine politische. Denn sie kann den Frust einer nach Frankfurt/Oder exilierten Luise Endlich ebenso gut nachvollziehen, wie die Borniertheit ihrer ostdeutschen Landsleute für trockene Rotweine.Rita Kuczynski: Mauerblume. Ein Leben auf der Grenze. Claassen Verlag, München 1999. 317 Seiten, 36 DM.

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