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Kultur: Die Kunst des Schwebens

Judith Herzbergs „Vielleicht Reisen“ uraufgeführt in Düsseldorf

Ein kurzer Abend nur, eine kleine, in schönen Ellipsen erzählte Geschichte vom Sterben, vom Reisen, vom Miteinanderleben – und doch ein Juwel. Die Uraufführung von „Vielleicht Reisen“, des jüngsten Stücks der 1934 geborenen, als Kind dem Holocaust entronnenen niederländischen Dichterin und Dramatikerin Judith Herzberg („Leas Hochzeit“), wurde mit dem Düsseldorfer Schauspiel erarbeitet, Improvisationen der fünf Schauspieler flossen in den Text ein, der Regisseur Peter Hailer findet eine überzeugende szenische Lösung für die Verzahnung zweier parallel geführter Erzählstränge: Gründe für den organischen Eindruck, den die Aufführung hinterläßt. Ihre Stärke liegt indes bei den Darstellern, die mit sparsamen Mitteln fünf lebendige, liebenswerte Figuren entwickeln: Figuren mit Geheimnissen, die sie erst nach und nach preisgeben.

Die Bühne im Kleinen Haus (Hank Irwin Kittel) hat Platz für zwei Erzählräume: Auf einer dreieckigen Plattform, lediglich mit Kühlschrank und Fernseher bestückt, empfangen die Sängerin Madeleine und ihre Freundin Hilde den Besuch von Madeleines Tochter Gwen. Die berichtet, zögernd, weil sie mit dem Argwohn ihrer Mutter kalkuliert, von ihrem neuen Freund, einem linken Aktivisten, der irgendwo in Lateinamerika das Regime bekämpft hat und dafür im Gefängnis saß. Das Terrain außerhalb der Plattform, von der Hinterbühne bis hinauf in den Zuschauerraum, gehört den Männern Arthur und Ricky. „Vielleicht Reisen“ heißt die Parole, mit der Ricky seinen Freund im Auto nach Rumänien entführt, um Arthurs Trauer über den Freitod des Zwillingsbruders zu entschärfen. Der Tote ist der Freund von Gwen, die vom Selbstmord ihres Geliebten noch nichts erfahren hat. Derart lose sind die beiden Erzählstränge miteinander verknüpft; erst in der allerletzten der 49 meist kurzen Szenen kommen sie ganz zusammen. Judith Herzberg ist dabei nicht an einer willkürlichen Verrätselung gelegen, sondern an – seelischer – Spannung.

Das inszenatorische Kunststück liegt darin, die Neugier für beide Geschichten wachzuhalten, und das kann nur gelingen, wenn man für jede einzelne Szene einen Focus findet, ohne sie mit Bedeutung zu überfrachten. Die drei Frauen sind auf knappem und leerem Raum ganz auf ihre Präsenz gestellt: Anke Schubert als schwierige, kapriziöse Mutterfigur, weich und bissig zugleich, Birgit Stöger als eigensinnige, dabei Verständnis suchende und liebesbedürftige Tochter, Constanze Becker als einfühlsame, ausgleichende junge Geliebte der Mutter - jede Nuance sitzt, nichts wird forciert, und jede Darstellerin wirbt mit spürbarer Wärme um Sympathie für ihre Figur.

Die an die Peripherie verbannten Männer haben den größeren Bewegungsradius, aber die Mittel, die der Regisseur ihnen gibt, sind ähnlich schlicht: Wenn Ricky (Dieter Prochnow) Auto fährt, dreht er einfach ein imaginäres Rad zwischen den Händen – armes Theater, das die Aufmerksamkeit wiederum auf die Darsteller und ihr prekäres Beziehungsgefälle lenkt. Nach und nach wird offenbar, dass der empfindsame Arthur (Winfried Küppers) Rickys Fürsorge als Bevormundung und Einengung empfindet.

Welche Menschen haben hier mehr Kraft: Die dominanten wie Madeleine und Ricky, die mit Rezepten herumwedeln und andere mehr oder weniger sanft dirigieren (natürlich meinen sie es immer gut), oder die scheinbar labilen, anlehnungsbedürftigen wie Gwen und Arthur, die in der Treue zu sich selbst und zu denen, die sie lieben, ihr Maß und ihr Gleichgewicht finden? Judith Herzberg, eine Künstlerin des Schwebenden, und ihr Regisseur Peter Hailer beantworten die Frage nicht. Aber sie zeigen, dass es mit Antworten nicht getan ist. Die Menschen reagieren auf die Zumutungen des Lebens, wie sie grad müssen, und selten ist ihnen wirklich zu helfen. Das ist, wie wir spätestens seit Tschechow wissen, traurig und tröstlich zugleich.

Wieder am 23. und 24. Juni.

Martin Krumbholz

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