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Kultur: Die Kunst in den Zeiten visuellen Schrotts

Ein Gespenst geht um und ängstigt nicht allein Künstler, Kunst-Liebhaber und -Sammler: die nebulöse Furcht vor einer Bilderflut der Neuen Medien.Die Verbindung von Kunst und moderner Technik irritiert.

Ein Gespenst geht um und ängstigt nicht allein Künstler, Kunst-Liebhaber und -Sammler: die nebulöse Furcht vor einer Bilderflut der Neuen Medien.Die Verbindung von Kunst und moderner Technik irritiert.Die wachsende Durchdringung der Gesellschaft mit elektronischen Bildern zeigt den Absolutheitsanspruch der Neuen Medien.Zur Angst auslösenden Chimäre oder zum blauäugig verehrten Fetisch wird die Entwicklung aber erst, wenn sie nur als betäubende Bilderwelt wahrgenommen wird.

Auf viele wirkt es fatal, daß die bildende Kunst heutzutage keine gesellschaftlichen Leitbilder mehr produziert - wie Yves Klein, Joseph Beuys, Andy Warhol noch in den 60er Jahren.Warum aber erscheinen Werke malender Künstler heute allzuoft als ein Déja-vu, als lächerlich-traurige Reaktion auf mediale Einflüsse oder als Wiederholungen der Moderne?

Die Bundeskunsthalle in Bonn untersucht gegenwärtig mit ihrer Ausstellung "Gen-Welten.Prometheus im Labor" die konträren Positionen von Wissenschaft und Kunst gegenüber einer synthetischen Welt.Mit Modellen, Bildern und Texten lernt der Ausstellungsbesucher spielend seine Vorurteile abzubauen.In der Kunst-Abteilung aber werden ihm alle alten Vorurteile bestätigt: In Gloria Friedmanns Installation schweben an Elektronik-Bauteilen aufgehängte Schweineköpfe über Fotos von Joggern.Sie verweisen auf ein handgestricktes Weltbild platter Gegensätzlichkeiten.Von Thomas Grünfeld ist ein plastisches Objekt zu sehen, das als Schaf-Strauß-Tier nur den Stammtischwitz der eierlegenden Woll-Milch-Sau veranschaulicht.Während bei Gloria Friedmann die Kunst hinter der modernen Entwicklung zurückbleibt, wird Grünfeld von den Kuratoren im falschen Kontext plaziert.Die Bildende Kunst wirkt hier nicht als kritischer Einwurf, sondern als Verlustanzeige einer liebgewordenen Innenwelt-Möblierung.Die Beispiele ließen sich fortsetzen.

Die Bildende Kunst scheint weithin nicht mehr an der Wirklichkeit interessiert zu sein, sondern betätigt sich eher als Lieferant für Feierabend-Illustrationen, KaminfeuerPlattitüden.Sie reagiert wie ein bunter Vogel Strauß auf die sich verändernde Gesellschaft.Galt Kunst im Deutschen Idealismus noch als Chance aus der Natur-Beschränkung herauszukommen, so scheinen heute viele Künstler von einer Sehnsucht nach der Idylle getrieben zu sein.

Als die Fotografie vor gut 100 Jahren aus dem Tüftler- und Chemielabor-Stadium entwuchs, bemächtigte sich das neue Medium vor allem zweier Gebiete: der Porträt- und Vedutenmalerei.Die Fotografie vermochte mit großem Erfolg, lebendigere Personenbilder und genauere Reiseandenken zu produzieren als die Malerei.Die gerade auf diese Genres spezialisierten akademischen Maler flüchteten sich in den Naturkitsch.Es war kein Zufall, daß Ende des 19.Jahrhunderts gigantomanische historistische Auftragskunst als Reaktion auf die Industriealisierung entstand.Ihr Untergang war mit dem Ende des Kaiserreichs vorprogrammiert.

Das neue Medium Fotografie bot dagegen eine enorme Chance: Entlastet vom Zwang der Menschenbild- und Natur-Darstellung radikalisierte sich die Malerei; es entstanden Porträts und Landschaften jenseits der naturgetreuen Wiedergabe.Diese Entlastung beschleunigte die Revolution der modernen Kunst.Die kubistischen Bilder von Braque und Picasso, die abstrakte Malerei von Kandinsky, die gegenstandslose Kunst von Malewitsch sind Formulierungen eines neuen Sehens jenseits der Tradition.

Der Wust überlieferter Traditionen wurde abgestoßen, eine neue bildnerische Klarheit und Formel gefunden - nicht als Reaktion auf die neuen Techniken, sondern im Bunde mit diesen.Kasimir Malewitsch inspirierte sich an den neuartigen aviatorischen Erlebnissen der damals noch sportlich abenteuerlichen Flugzeuge und schuf mehrdimensionale Bilder, die kein bestimmtesÔUnten undÔOben kennen wie im irdischen Raum.

Künstler mit traditionellen Fertigungsmethoden haben am Ende unseres Jahrhunderts einen schweren Stand.Die visuellen Attacken der elektronischen Medien formulieren die gesellschaftlichen Leitbilder - nicht aber die Werke bildender Künstler.Was tun? Alternativen zeigt beispielsweise der Fotograf Thomas Ruff: Nach seinen superrealistischen Frontalporträts operiert er mit Digitalfotografie, rechnergenerierten Bilderwelten.Dazu benutzt er ein Verfahren, das dem der Collage in der Malerei vergleichbar ist.

Die Situation für die Kunst wird dramatisch.Die elektronischen Trickstudios der Walt-Disney- und Silicon-Valley-Gesellschaften prägen machtvoll unsere Bilderwelt mit Videoclips, Filmen und Werbespots.Europa mit seiner kulturellen Tradition muß aktiv werden."Arte" versteht sein intelligentes TV-Programm als europäische Initiative gegenüber werbedominierten soap operas.Vergleichbares muß Europa für den digitalen Bilderkosmos schaffen: durch Wettbewerbe, Gründung von Digital-Zentren, elektronischen Salons und Studios.Gefordert ist nicht Artenschutz für Nischenkunst, sondern Starthilfe für innovative Ideen und Projekte ...besonders Berlin hat da großen Nachholbedarf.

Kommunikation gilt heute als die Kunst auf den Netzen, doch visueller Schrott dominiert.Auf den Netzen wird ein meist beschränktes Bildvermögen von Informatikern und Hackern vorgeführt.Die gepixelte 3-D-Darstellung eines Swimmingpools mit Wellen rangiert schon als preiswürdige Medienkunst.Doch intelligente Kunst auf den Netzen entwickelt sich jenseits von Echtzeit- und 3-D-Darstellungen: als visuelle Darstellung innovativer Kommunikationsprojekte.Telematische Vorgänge, die globale automatische Steuerung realisieren die utopischen Träume der Kybernetiker.Telematik wird zur Schlüssel-Kulturtechnologie für das 21.Jahrhundert - nach Digitalisierung, Multimedia und Interaktivität.Intelligente Steuersysteme bilden das innovative Entwicklungsfeld der neuen Medien und öffnen das Terrain für neue wirtschaftliche Entwicklungen.Ihre Wirkung ist umfassender als die der automatisierten Steuertechnik für den Auto- oder Luftverkehr.

Die Telematik hat Tradition - seit den Navigationsproblemen der Antike, mit denen Odysseus, der erste Kybernetiker, auf den Homerischen Meeren zu kämpfen hatte.Telematik verändert heute zugleich den öffentlichen Raum.Die bürgerliche res publica der eindimensionalen Informationsgesellschaft erweitert sich zur interaktiven Kommunikationsgesellschaft.Nicht mehr ein einziges Zentrum produziert und verschickt Informationen, sondern Empfänger werden zu Sendern.Das bedeutet das Ende der hierarchischen Struktur der Informationsgesellschaft.Das TV-Zeitalter erweitert sich vieldimensional zur telematischen Netz-Gemeinde.Was heute noch an der Oberfläche als chaotischer Laienchor Piep-Piep macht, wird bald schon alle nationalen und sozialen Grenzen sprengen.

Um 1915 entstand in Rußland ein kleines Bild von etwa 80 mal 80 Zentimetern.Es zeigt ein schwarzes Viereck auf weißem Feld.Diese einfache Bild-Komposition Malewitschs gilt als Schlüsselwerk der Moderne.Im Nachhinein deklassiert es alle damals hochgerühmten realistischen Monumentalschinken.Gerade jetzt gibt es in der Kunst wieder einen Hang zur Monumentalität; in ihrer Überdimensioniertheit versucht sie erneut staatliche Ikonographie - zum Beispiel beim Holocaust-Mahnmal oder in geplanten Berliner Bundesbauten - als Denkmal zu beglaubigen.Ein Irrweg.

Der Autor ist Ausstellungsmacher und bereitet mit Bazon Brock als künstlerischer Leiter die Ausstellung "Macht des Alters - Strategien der Meisterschaft" (Kronprinzen-Palais, September 1998) vor.Demnächst erscheint sein Malewitsch-Band "Das Schwarze Quadrat - vom Anti-Bild zur Ikone der Moderne" (Fischer-Verlag).

JEANNOT SIMMEN

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