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Französische Mutter, algerischer Vater. Die Schriftstellerin Alice Zeniter.

© imago images / TT

„Die Kunst zu verlieren“ von Alice Zeniter: Die Zeche zahlen die Kinder

Alice Zeniter gilt als eine der spannendsten jungen Schriftstellerinnen Frankreichs. In ihrem Roman „Die Kunst zu verlieren“ erzählt sie die Geschichte einer französisch-algerischen Familie.

Algerien, das ist für Naïma nur ein Wort. Sie verbindet es mit ihrer Großmutter Yema, mit ihren Tanten und Onkeln, mit der Erinnerung an ihren Großvater Ali, der trauriger und trauriger wurde, und mit dem Schweigen ihres Vaters, der einfach nur Franzose sein will. Jahrelang wollte er einmal mit den vier Töchtern in das Land fahren, in dem er geboren wurde. Doch nachdem einer seiner Neffen bei Grenzkontrollen getötet wurde, verschwand der Plan. Naïma stört das nicht weiter. Sie ist in Paris geboren, arbeitet in einer Galerie und hat seit zwei Jahren eine intensive Affäre mit Christophe, dem Galeristen. Dass er gar nicht erst vorgibt, Frau und Kinder zu verlassen, rechnet sie ihm hoch an.

Eine Weile hat sie One-Night-Stands aneinandergereiht. Ihre Großmutter heiratete mit vierzehn, ihre Mutter Clarisse traf ihren Vater Hamid mit achtzehn, Naïma wollte diejenige sein, die aus der Reihe tanzt. Doch irgendwann dämmerte ihr, dass die Libertinage zum Zwang geworden war, dass der schnelle Sex, mit dem die Frauen beweisen wollen, dass sie den Männern ebenbürtig sind, das Verlangen zum banalen Konsumartikel macht und am Ende nur den Männern nützt. „Die Frauen zahlen die Rechnung“, schreibt Alice Zeniter mit einer Formulierung, die von der Soziologin Eva Illouz stammen könnte.

Algerien als Fantasie und Realität

Die 1986 geborene französische Schriftstellerin baut ihren fünften Roman (Berlin Verlag. 558 Seiten, 25 €.) geschickt auf. Mit einem Prolog führt sie Naïma ein, um dann in zwei großen Teilen – „Papas Algerien“ und „Kaltes Frankreich“ – eine chronologische Familiengeschichte über drei Generationen zu erzählen. Anfangs spielt Naïma nur die Rolle einer Stimmgabel, die den Grundkonflikt anklingen lässt: das Algerien der Fantasie gegen das reale Land, das sie erst im dritten Teil kennenlernt.

„Die Kunst zu verlieren“ (L’art de perdre, 2017), benannt nach einem Gedicht von Elizabeth Bishop, ist auktorial erzählt. Alice Zeniter, die zu Recht als eine der interessantesten jüngeren Schriftstellerinnen Frankreichs gilt, bürdet ihrer Hauptfigur also nicht auf, die Geschichte ihrer Familie selbst zu erzählen. Dinge, die sie nicht wissen kann, weil sie mit Scham verbunden sind und aus Gründen des Überlebens verschwiegen wurden, kann die Autorin so zur Sprache bringen, ohne ihre Protagonistin in Enthüllungsszenarien zu verwickeln.

Naïmas Vater Hamid kommt aus einer kabylischen Familie. Er war neun, als er 1962 mit seinen Eltern und Geschwistern nach Frankreich kam. Jahrelang plagten ihn Albträume, eine Zeit lang versuchte er nachts wach zu bleiben, um die Geschwister nicht durch Schreie zu wecken. Seinen Töchtern empfiehlt er, niemals die Jahreszahl zu nennen und lieber im Ungefähren zu bleiben. Dass die Familie ausgerechnet im Jahr der Unabhängigkeit fliehen musste, kann als Zeichen der Kollaboration gedeutet werden.

Ali hat das Land als sogenannter Harki verlassen, als Hilfssoldat des französischen Militärs, für das er auch im Zweiten Weltkrieg in Europa auf Seiten der Alliierten kämpfte. Die Schlacht um Monte Cassino gehörte zu seinen schlimmsten Erfahrungen. Zurück in Algerien, wurde er 1949 Vizepräsident der örtlichen Veteranen-Vereinigung. Durch eine zufällig bei einem Unwetter angespülte Olivenpresse brachte er es zu einem gewissen Wohlstand. Seinem sozialen Status trauert er nach, wenn er nach fast drei Jahren in französischen Lagern, immerhin im Licht der Provence, mit seiner Familie in eine Sozialbau-Siedlung unter dem dunklen Himmel der Normandie zieht und als Fabrikarbeiter in der metallverarbeitenden Industrie landet.

Die Hoffnung, erneut zu Wohlstand zu kommen, seine Freundlichkeit und Demut ärgern Hamid, den ältesten Sohn von zehn Kindern. Zwar erfüllt er das väterliche Gebot, überall der Beste zu werden, aber kaum hat er das Abitur in der Tasche, zieht er ab nach Paris. In der Bugwelle der 1968er begeistern ihn Marx, Dylan, Che Guevara, nachträglich wird er zum Anhänger der Algerischen Befreiungsbewegung, vor deren blutigen Kämpfen mit der Kolonialmacht seine Eltern geflohen waren.

Die Ängste des Vaters geerbt

Zeniter findet immer wieder starke Szenen, in denen sich ein Zustand konzentriert. Etwa wenn Ali beim Baumfällen mit anderen Lagerinsassen in den prasselnden Regen von Pinien-Prozessionsspinner-Raupen gerät. Zunächst ist da Erschrecken, Panik, dann brechen sie gemeinsam in Lachen aus: „Sie lachen, weil sie lachen können. Sie lachen, um sich zu vergewissern, dass der Krieg sich aus ihrem Bewusstsein zurückgezogen hat, wie das Wasser bei Ebbe, und dass sie auf dem Strand, den es freigegeben hat, das Vokabular des Schreckens verwenden können, ohne in Panik zu geraten.“

Oder wenn Clarisse, die Hamid auf einer Party von Kunststudenten kennengelernt hat, ihre Eltern damit vertraut machen will, „dass sie einen Araber liebt“. „Die Kabylen sind keine Araber“, antwortet er, und ein Algerier sei er auch nicht. Vielleicht weil es für ihn „keine zutreffende Bezeichnung“ gibt, versinke er in Schweigen, vermutet die Erzählerin.

Die Kunststücke zwischenmenschlicher Äquilibristik spielen in diesem Roman eine ebenso wichtige Rolle wie die Geschichte Algeriens, die Rolle der Kabylei und die Bedeutung der Dekolonisation. Wie schlecht es um die Sicherheit der aus den Kolonien stammenden Franzosen selbst in der zweiten Generation bestellt ist, zeigt sich allerdings nach den Attentaten des Jahres 2015. Naïma erlebt, dass sie und ihre Familie für Muslime gehalten werden und sich von Taten distanzieren sollen, die keiner von ihnen begangen hat. Und sie beobachtet, dass sie Ängste ihres Vaters geerbt hat, um die herum sie eigene entwickelt.

„Die Kunst zu verlieren ist nicht schwer zu meistern; / so vielen Dingen scheint daran gelegen, / verloren zu werden, dass ihr Verlust kein Unglück ist“, heißt es in „One Art“, jenem Gedicht von Elizabeth Bishop in der Form einer Villanelle, das Alice Zeniter zitiert. Ihr Roman erkundet die Ängste und Freiheiten der zweiten Generation, und er erkundet die Kunst, Dinge loszulassen, indem man über sie schreibt.

Meike Feßmann

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