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Kultur: Die Legende bebt

Auf neue Songs von den Rolling Stones wartet schon lange niemand mehr. Dafür hören viele ihre alten umso lieber: 59 000 Fans kamen am Sonntag ins Berliner Olympiastadion, um Jagger & Co. zu erleben. Besichtigung eines Weltkulturerbes

Der besinnliche Teil des Abends beginnt nach einer halben Stunde. Auf der Leinwand regnet es Goldfunken, und Mick Jagger steht – unglaublich! – minutenlang nahezu reglos hinter dem Standmikro. Er singt „Wild Horses“, eine sehnsuchtsvolle Ballade aus dem Jahr 1971. Rechts neben ihm streichelt Keith Richards die Saiten seiner Akustikgitarre, links assistiert Ron Wood auf der E-Gitarre. Dahinter thront Charlie Watts, der Stoiker am Minimalschlagzeug. Einen Moment lang scheinen die vier Männer tief versunken zu sein in ihrer Musik. Die unvermeidlichen Feuerzeuge flammen auf, Kirchentagsstimmung legt sich über das mit 59000 Zuschauern nicht ganz ausverkaufte Berliner Olympiastadion. Es folgt ein wunderbares Duett von Posaune und Akustikgitarre, das Intro von „You Can’t Always Get What You Want“. Jagger hält es nicht länger auf seinem Platz. Über ein Treppchen stürmt er auf den Laufsteg, der in den Innenraum des Stadions hineingebaut ist, und fordert die Zuhörer mit Gotthilf-Fischer-artigen Dirigierbewegungen zum Mitsingen auf. Am Ende des Stücks kniet Richards nieder und küsst seine Gitarre. Jagger sagt in auswendig gelerntem Deutsch ein Kompliment auf: „Ihr sseid ein geiless Puhblikum!“

You Can’t Always Get What You Want: Das marktwirtschaftliche Gesetz, wonach jeder Kauf auf eine Enttäuschung hinausläuft, ist in einem Konzert der Rolling Stones aufgehoben. Der zahlende Besucher kriegt genau das, was er gewollt hat: die größte, lauteste, härteste Rock’n’Roll-Show des Universums. Der Abend beginnt mit „Brown Sugar“ und endet 18 Songs und zweieinviertel Stunden später mit „Satisfaction“ und der Zugabe „Jumpin’ Jack Flash“. „Wild Horses“ und „You Can’t Always Get What You Want“ bleiben die einzigen Balladen. Als die Rolling Stones vor fünf Jahren das letzte Mal auf Tournee gingen, hatten sie ihr neues Album „Bridges To Babylon“ dabei. Auch im Vorfeld der jetzigen Kampagne, die die Gruppe noch bis in den September quer durch Europa führen wird, war eine Platte erschienen. Doch „Forty Licks“ ist ein gediegener Sampler, der die Meilensteine aus der 40-jährigen Band-Karriere versammelt und bloß vier neue – ziemlich maue – Nummern enthält.

Auf neue Songs von den Stones wartet die Welt schon lange nicht mehr. Es gibt mehr Klassiker von ihnen, als in ein Konzert hineinpassen. Inzwischen ist die Band im letzten Stadium ihrer Laufbahn angelangt: beim Verwalten der eigenen Legende. Es geht darum, zu zeigen, dass dieses Stück Weltkulturerbe – die vier Kernmitglieder sind zusammengerechnet 236 Jahre alt – noch höchst lebendig ist. Was die Rolling Stones spielen, ist eine Nebensache. Hauptsache ist, dass sie überhaupt noch spielen. Die Show steckt voller Verweise auf den Zorn und den Hedonismus der frühen Jahre. Bei „Sympathy For The Devil“ ist die Bühne in fahles blaues Licht getaucht, der berühmte diabolische Rhythmus scheint aus tausend Bongos zu kriechen, Jagger seufzt aasig „Please allow me to introduce myself“, blutrot blitzen im selben Moment die Scheinwerfer auf, und dann kommt dieses fräsende Gitarrenriff, das einem noch immer durch Mark und Bein geht. Vier, fünf Nummern später ist bei „Honky Tonk Women“ auf der Leinwand ein barbusiges Comic-Mädchen zu sehen, das breitbeinig auf der rausgestreckten Zunge des Stones-Logos reitet.

Der Stones-Mund, der 1971 zum ersten Mal auf dem Cover des Albums „Sticky Fingers“ auftauchte, scheint einen Bedeutungswandel hinter sich zu haben. Er signalisiert nicht mehr „Leck mich!“, sondern „Küss mich!“ Die Provokation ist verbraucht, am rebellischen Geist der Sechziger- und Siebzigerjahre hat die Stones ohnehin mehr die nassforsche Attitüde interessiert. So darf in dieser lauen Berliner Sommernacht auch „Street Fighting Man“ nicht fehlen, der Revolutions-Soundtrack von 1968, „’cause summer’s here and the time is right for fighting in the street, oh boy“. Auf den bessereren Plätzen der Gegengerade hockt die Polit- und Showprominenz von Hans Eichel über Udo Walz bis Friede Springer und ist genauso begeistert wie das einfache Klatschvolk im Innenbereich der Arena. Der Triumph der Stones ist auch deshalb so total, weil sie niemanden ausschließen.

Die Rolling Stones wirken inzwischen wie die besten Rolling Stones-Imitatoren. „Ihr größtes Talent war vielleicht die Kunst, jung zu sein“, hat ihr Entdecker Andrew Loog Oldham gesagt. Heute, an der Schwelle zum Greisenalter, beherrschen sie die Kunst, so zu tun, als ob sie immer noch jung und wild wären. Selbst wer sie noch nie live gesehen hat, weiß genau, wie sie sich auf der Bühne bewegen werden. Mick Jagger, der Zappelphilipp. Keine Sekunde kann er still stehen, geckenhaft trippelt und tanzt er über die Bühne, mit den Armen macht er seltsame, abgezirkelt wirkende Bewegungen, er fasst sich gelegentlich in den Schritt und wiegt die Hüften, wie er es einst bei Tina Turner abgeguckt hat. Keith Richards, der Untote. Sein Gesicht ist eine imposante Faltenlandschaft, die Haare stehen zu Berge, unter einer geschmacklosen lilafarbenen Jacke zeigt er seinen nackten, abgemagerten Oberkörper, beugt sich immer wieder tief über seine Gitarre, der er die räudigsten Töne entlockt. Bei „Slipping Away“ und „Happy“ darf er sogar singen, mit dünner, tonloser Nicht-Stimme. Ron Wood, der Kumpeltyp. Scheint immer noch dieselben Klamotten zu tragen wie 1975, als er zu den Band stieß: Lederjacke, ärmelloses T-Shirt, schwarze Jeans. Steht immer leicht vornübergebeugt, raucht mit majestätischer Lässigkeit und spielt inzwischen mehr Gitarrensoli als Richards. Charlie Watts, der Gentleman. Sein weißer Haarschopf leuchtet wie eine Krone, konzentriert bearbeitete er seine Drums, das Spektakel, das seine Kollegen veranstalten, scheint ihm etwas peinlich zu sein. Die anderen Mitwirkenden – Bassist Darryl Jones, ein Keyboarder, vier Bläser, vier Backgroundsänger und -innen – sind bloß Statisten.

Die rund 1500 Quadratmeter große Bühne ist mit einem gewaltigen Leichtmetallgerüst überkuppelt, an dem fahrbare Scheinwerfer, ein riesiges Pop-Art-Gemälde und die Übertragungsleinwände aufgehängt sind. Ein etwa sechzig Meter langer Steg führt zu einer kleinen Rundbühne mitten im Publikum. Drei Songs spielen die Stones auf dieser Minibühne, eingekeilt wie Löwen in ihrem Käfig. Ein Clubkonzert im Stadion. Doch bei „It’s Only Rock’n’Roll“ schmiert Jaggers Gesang ab, der Sound ist katastrophal. Trotzdem wird das Defilee über den Laufsteg zurück zur Hauptbühne ein Triumphzug. Die Stones beugen sich zu ihren Fans, klatschen die hingehaltenen Hände ab. Nur Watts schreitet aufrecht.

In der Menge, die nachher zur U–Bahn strömt, unterhält sich ein Vater mit seinem vielleicht neunjährigen Sohn. Der Sohn sagt: „Am besten war das Lied, bei dem es die Flammenstöße gab.“ Der Vater: „Das Lied heißt ,Sympathie mit dem Teufel’.“ Der Sohn: „So ein tolles Lied.“

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