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Kultur: Die Leinwand lebt

Wie die Malerei ins Kino kam: die Kunst des Naturalismus in Amsterdam

In seiner Beschreibung des Pariser Salons von 1880 beschwor Émile Zola das Ende der überkommenen Malerei: „Es ist eine steigende, unwiderstehliche Flut der Modernität, die allmählich die Ecole des Beaux-Arts, die Akademie, alle Rezepte und Konventionen davonträgt.“ Das ist als Parteinahme für den Impressionismus verstanden worden. In der Tat war Zola ein Anhänger Edouard Manets. Was aber konnte Zola im Salon sehen, dieser jährlichen Musterschau französischer Kunstproduktion? Doch nicht die Impressionisten, die von der Jury zurückgewiesen wurden – sondern die Malerei des Naturalismus. Für Zola machte das keinen Unterschied. Ihm ging es um die Moderne, die Gegenwart seiner eigene Zeit. Die aber war alles andere als heiter. Die Industrialisierung führte zu sozialen Verwerfungen, Armut und Obdachlosigkeit waren allgegenwärtig. Genau davon erzählen die Bilder, die damals hoch geschätzt wurden.

Es ist ein erstaunliches Phänomen. Die Sammler, die Museen und der Staat als Auftraggeber schätzten ausgerechnet die Gemälde, die ihnen den Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse vorhielten: Kinderarbeit, Lumpenproletarier, Streik und Aufruhr, dazu die „Idiotie des Landlebens“, wie Marx zuspitzte. Das sind die Themen, die Anklang fanden, bei einem Publikum, das eigene Erfahrungen hatte mit dem, was ihm auf den Bildern begegnete. Es ist dies auch das Spektrum der Gemälde, die im Amsterdamer Van-Gogh- Museum gezeigt werden. „Illusion und Wirklichkeit. Naturalistische Malerei, Fotografie, Theater und Film 1875-1918“ ist die Ausstellung überschrieben, die eine Kunstgeschichte jenseits von Impressionismus und Post-Impressionismus darlegt, mit Beispielen aus Europa und Nordamerika. Der Naturalismus war eine internationale Strömung, weit mehr noch als der Impressionismus. Die naturalistischen Gemälde reisten von Ausstellung zu Ausstellung, sie wurden unmittelbar rezipiert und regten zur Nachahmung an.

Eines der beliebtesten Gemälde der Tate Gallery, des Museums britischer Kunst in London, war George Clausens „Mädchen am Tor“ von 1889: ein Mädchen am Gartentor, das die Hoffnung aufgegeben hat, der Enge des Hofes je zu entfliehen. Sie ist, wie das Gemälde nur andeutet, gehbehindert. Was sah das Publikum in dem Bild – die Enttäuschung über ein nicht gelebtes Leben oder die Erleichterung darüber, dass auch ein behinderter Mensch seinen Platz finden kann? Eine solche Ambivalenz der Rezeption, auch der intendierten Aussage, ist bei den rund 50 Gemälden mitzubedenken. Warum sollten sich Museen Bilder von erschöpften Bauern, Reisig sammelnden Alten, nach Kohlebrocken langenden Kindern an die Wände hängen, wie sie Maler von Frankreich bis Russland, von Belgien bis Schweden und den USA in großer Zahl malten?

Die Amsterdamer Ausstellung, zusammengestellt von dem wohl besten Kenner des Naturalismus, dem US-Kunsthistoriker Gabriel Weisberg, geht über die Zusammenstellung „hässlicher“ Bilder hinaus. Sie beleuchtet den Wechsel der Medien, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollzieht. Ein „Paradigmenwechsel“, wie Weisberg im Katalog schreibt: „Was in der Malerei selbstverständlich war, eine verständliche Erzählung, die weithin verstanden wurde, wurde nunmehr auf eine neue technologische Erfindung übertragen, den bewegten Film.“ Die frühen Stummfilme – einzelne Sequenzen werden parallel zu den Gemälden an die Wände projiziert – entlehnen ihre Ikonografie den Gemälden, mit Typen, die ihre soziale Stellung zu erkennen geben.

Ein Musterbeispiel der Verschränkung künstlerischer Medien ist Zolas Roman „Germinal“, 1878 in Fortsetzung veröffentlicht und 1885 als Buch vorgelegt. Die dramatische Geschichte aus dem Bergarbeitermilieu zeitigte eine ungeheure Wirkung. Mit dem Motiv des erfolglosen Streiks greift Zola voraus auf Konflikte, die sich um die Jahrhundertwende zuspitzen sollten, vor allem in der Bergbau- und Industriestadt Le Creusot. Der dortige Aufruhr von 1899 wurde Bildthema, etwa bei Jules Adler, zugleich aber in der Presse totgeschwiegen. Gegenüber dem Schicksal Einzelner, das in Bildern etwa von Jules Bastien-Lepage hoch geschätzt wurde, stieß die Aktion der Arbeiterschaft auf strikte Ablehnung. Adler wurde als französischer Jude nach Dreyfus ohnehin von der Obrigkeit argwöhnisch beobachtet.

„Germinal“ indessen wurde zu großem Kino. Der Stummfilm Albert Capellanis von 1913, den Weisberg im Archiv von Pathé-Gaumont entdeckt hat, lässt in den in Amsterdam gezeigten Ausschnitten erahnen, warum dieser Paradigmenwechsel stattfand. Das Kino zeigte sich den Gemälden überlegen. Das Elend überkam den Zuschauer nicht mehr in Öl, sondern auf bewegtem Zelluloid. Gleichwohl bleibt das Rätsel, wie es diese ungeschönten Darstellungen zu solcher Popularität hatten bringen können – und das längst nicht nur bei denen, die sich auf der Sonnenseite des Lebens wärmen konnten.

Amsterdam, Van-Gogh-Museum, bis 16. Januar. Katalog (auch auf Deutsch) 34,95 €.

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