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Kultur: Die Lektion des Mittelstürmers: Über Neue Märkte, Hertha BSC, die Leitkultur und Pinguine

Dies ist eine Hymne auf Michael Preetz, den Kapitän von Hertha BSC Berlin, und vielleicht noch auf alle Pinguine in der Welt.Kürzlich flog ich von Berlin nach München, und es geschah wieder das, was ich am Fliegen hasse.

Dies ist eine Hymne auf Michael Preetz, den Kapitän von Hertha BSC Berlin, und vielleicht noch auf alle Pinguine in der Welt.

Kürzlich flog ich von Berlin nach München, und es geschah wieder das, was ich am Fliegen hasse. Links neben mir saß ein Mann mit einem Diktaphon und diktierte noch vor dem Start Zahlen und Analysen, ohne zu fragen, ob mich das stören könnte, sondern im Gegenteil eher so, als ginge er davon aus, dass es mich und alle anderen sowieso brennend interessiert. Er diktierte Zahlen aus dem Börsenmagazin "Der Aktionär" und beschäftigte sich dann den gesamten Flug über mit der Knochenmarks-Krebsaktie "Cell Therapeutics", die groß im Kommen sei, weil sich, so konnte ich mitlesen, Knochenmarkskrebs erst seit kurzem stark auf dem Vormarsch befindet. Dann diktierte der Mann: "Die Aktie dürfte sich zum Outperformer im Krebssektor entwickeln. Kaufen!"

Darauf richtete ich meinen Blick nach rechts, wo neben mir ein Mann saß, der mit hektischen Armbewegungen und nervendem Rascheln sieben oder acht Zeitungen zerpflückte, um lauter Artikel über die "Leitkultur" zu sammeln, wobei er mir einmal beim Rausreißen an den Kopf stieß, ohne zu bemerken, dass ich bereits größte Schwierigkeiten hatte, mich auf einen Bericht über die Haaranalyse von Christoph Daum zu konzentrieren.

Dann das Wunder.

Fast zwanzig Männer in identischen dunklen Anzügen mit blauen Hemden betraten die verspätete Maschine, und mein Kindheitstraum ging in Erfüllung. Einmal mit einer bedeutenden Fußballmanschaft zu reisen! Die zwanzig Männer waren die Spieler von Hertha BSC Berlin, und sie flogen nach München, um dort siegend Tabellenführer zu werden!

Schräg rechts vor dem Leitkultur-Heini saß Sebastian Deisler, der Nationalspieler, und hörte still und leise mit dem Kopfhörer eine CD. Knapp hinter mir Gabor Kiraly, der schöne ungarische Tormann, der nach dem Start nur seinen Klapptisch ausklappte, die Hände darauf legte und sie ansah, bis München. Neben ihm Bryan Roy, der schwarzhäutige Holländer, früher Ajax Amsterdam, der nur eine gelbe Tüte hatte, darin die niederländische Zeitung "De Telegraaf", deren Titelseite er einmal überflog, um dann still und nachdenklich seine Stirn zu massieren. Auf der anderen Seite Alex Alves, der Brasilianer am Fensterplatz, irgendwie traurig wirkend und während des Fluges in die Abendsonne versunken. Als dann Ali Daei, dieser riesige iranische Athlet aufstand, um sein Jackett auszuziehen, dachte ich: Hoffentlich wird jetzt diese versammelte sportliche Energie im Flugzeug dem Mann mit der Knochenmarks-Krebsaktie die Laune verderben. Aber der scherte sich einen Dreck um Hertha BSC und diktierte: weiter kaufen! Ich sah hinüber zum Leitkultur-Heini, aber auch der wühlte ungerührt in seinen Zeitungen, ohne zu merken, dass gerade jetzt, mit dem deutschen Spitzenligafußball, der aus Holländern, Brasilianern, Ungarn, Isländern (Eyjölfur Sverrisson) oder Iranern bestand, ein wunderbares Beispiel multi-ethnischer deutscher Leitkultur um ihn herum saß.

Dann richtete ich den Blick auf meinen Vordermann: Michael Preetz, der Kapitän. Er las Zeitung, nicht wie ich über Daums Haaranalyse, was man ja hätte denken können; nichts über Neue Märkte, wo er ja wahrscheinlich die ganzen bescheuerten Knochenmarks-Krebs-Aktien dem Mann neben mir wegkaufen könnte, nein, er las: "Die literarische Welt" - Seite für Seite, lange und die Artikel sorgfältig an den Überschriften auswählend. Zuerst las er über Bill Clinton und Elvis Presley, dann einen Aufsatz von Professor Görner mit dem Thema "Die Intellektuellen müssen eine neue Form der Weitläufigkeit entwickeln", einen "neuen Kosmopolitismus", vom Autor unterlegt mit Zitaten von Voltaire, Wilhelm von Humboldt und Marcel Proust. Dann las Preetz noch etwas über polnische Gegenwartsliteratur und am Ende über Pasternaks Familienbriefe, eine Rezension von Wolf Jobst Siedler. Ich war begeistert.

Auch wenn es nicht das Feuilleton des "Tagesspiegel" war, (das hatte er bestimmt schon am Morgen gelesen), so war die Tatsache, dass Preetz, der Torschützenkönig der letzten Bundesliga-Saison, einfach da saß und die "Literarische Welt" las, ja so war dies: eines der schönsten Zeichen und Fanale gegen die Ignoranz, den Egoismus, den Materialismus und die Nabelschau und große Fachidiotie in der Welt!

Am Montag musste ich dann noch mal nach München. Ich saß im Flugzeug, ringsherum wieder hyperwichtige, sich aufspielende Geschäftsleute, die einen an der Welt verzweifeln lassen. Ich hasste wieder das Fliegen und dachte an Preetz. Es war schade, dass er diesmal nicht vor mir saß. Ich las, wie immer eingeklemmt, einen Artikel über Pinguine, die, wie man soeben herausgefunden hat, reihenweise rückwärts in der Antarktis umfallen, wenn ein Flugzeug über sie hinwegfliegt, weil sie dann ihr Gleichgewicht verlieren. Ich habe lange überlegt, für was dieses Bild stehen könnte - und glaube mittlerweile die Pinguine sehr gut zu verstehen.

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