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Kultur: Die Liebe zu den Dicken

Ich habe sie geliebt. Rückhaltlos.

Ich habe sie geliebt. Rückhaltlos. Gierig. Ich musste sie besitzen – alle, die zu meiner Schmächtigkeit in denkbar größtem Gegensatz standen. Dick mussten sie sein, die Bücher. Wie „Oliver Twist“, „Ein Kampf um Rom“ und „Winnetou 1–3“. Wenn man nach den ersten Seiten die letzten las und nichts verstand, wurden wir Freunde. Dass sie mir oft aus den Händen rutschten und runterkrachten, gefiel mir. Bodybuilding und Mindbuilding in einem. Ich hätte mit Shakespeares Cäsar sagen können: Lasset dicke Bücher um mich sein. Aber die Dramen des Engländers waren mir zu schmalbrüstig. Dann kühlte die erste Liebe meines Lebens ab. Neue stellten sich ein. Sie hatten wenig Verständnis für ihre Vorgänger. Eine Frau stellte mich sogar vor die Wahl. Das hätte sie besser nicht tun sollen. Trotzdem: Aus Liebe wurde Treue, manch dicker Freund zur Schwarte. Ich las Romänchen und wurde das Gefühl von Simulationen nicht los. Damals, in den Achtzigern.

Unmerklich wurde mir doch manch dickes Buch lieb: „Fluss ohne Ufer“, „Die Suche nach der verlorenen Zeit“, „Jahrestage“. Sie bekommen jetzt Zuwachs. Die Schlankheitswelle ist vorüber, der Bücherherbst lockt mit vollschlanken Schönheiten: Elias Khoury, „Das Tor zur Sonne“ (780 Seiten), Thomas Brussig, „Wie es leuchtet“ (670), Rüdiger Safranski, „Schiller“ (560), Franz Blei, „Erzählung eines Lebens“ (500), Juli Zeh, „Spieltrieb“ (650). Ich will sie haben. Alle. Aus differenzierteren Gründen als damals. Leider sprengen sie den Rahmen dieser dünnen 40 Zeilen.

Jörg Plath

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