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Kultur: "Die Linke hat diese Debatte verpennt"

Die Intellektuellen Frankreichs diskutieren über linkstotalitäre Systeme.Der grüne Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit will, daß auch die deutsche Linke diese Totalitarismus-Retrospektive ernst nimmt.

Von Caroline Fetscher

Die Intellektuellen Frankreichs diskutieren über linkstotalitäre Systeme.Der grüne Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit will, daß auch die deutsche Linke diese Totalitarismus-Retrospektive ernst nimmt.VON CAROLINE FETSCHER TAGESSPIEGEL: Das "Schwarzbuch des Kommunismus" schlägt in Frankreich Wogen.Brauchen wir diese Debatte auch in Deutschland? COHN-BENDIT: Die Totalitarismusdebatte ist permanent notwendig.- vor allem in Frankreich, da viele Intellektuelle wie die kommunistische Partei lange an den Komunismus geglaubt und die Debatte bisher verpennt haben.In Deutschland war es die Friedensbewegung, die den Blick auf die Aggression der Sowjetunion verschleiert hat. TAGESSPIEGEL: Warum? COHN-BENDIT: Ganz einfach: weil die Deutschen wegen Ihrer Aggression gegen die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg ein schlechtes Gewissen hatten.Für Pazifisten und viele Linke war eine radikale Kritik am sowjetischen System tabu.Ich erinnere mich noch, wie ich, während der Studentenrevolte 1968, die Mitstreiter darauf hinwies, daß wir im besseren der beiden deutschen Staaten leben, daß die DDR eine Diktatur ist.Günter Grass hat sie später "eine kommode Diktatur" genannt.Das stimmt, aber es war eine. TAGESSPIEGEL: Die DDR hatte gar keine Vorzüge? COHN-BENDIT: Entscheidend ist, daß die Linke die DDR, ihre Kindergartenplätze und Vollbeschäftigung, mythisiert hat.Die Augen wurden verschlossen gegenüber den Spartakiaden, der rücksichtslosen Ausbeutung der Kinder im Sport, dem Doping von Zwölfjährigen, den Schuluniformen... TAGESSPIEGEL: Die es auch in England gibt. COHN-BENDIT: Was sie nicht besser macht.Tatsache ist: die haben ihr Volk eingesperrt in der DDR: fertig! Wenn ich Leute einsperren muß, damit sie "solidarisch" sind und mir nicht weglaufen, ist etwas faul.Wir müssen den Mythos der "antifaschistischen" DDR loswerden, wie den der glorreichen Sowjetunion. TAGESSPIEGEL: Stéphane Courtois, dem Herausgeber des "Schwarzbuchs", scheint es nicht einmal zu passen, daß die Sowjetunion an den Gesprächen der Alliierten in Yalta beteiligt war. COHN-BENDIT: Man mußte den Krieg gegen Japan und Deutschland gewinnen und dazu machtpolitische Allianzen eingehen.Solche Entscheidungen kann man aber im vollen Bewußtsein dessen treffen, was man tut.Bei den Alliierten war die Duldung der Sowjets unmittelbar nach dem Krieg eine zynische Verhandlungsposition. TAGESSPIEGEL: Und bei den Intellektuellen? COHN-BENDIT: Der naive Wunsch, die Lust, das Bedürfnis nach einem Bild gelungener Revolution.Exemplarisch ist dafür eine Geschichte aus der Redaktion der Zeitschrift "Les temps modernes", die sich Mitte der Fünziger Jahre abspielte.Sartre hatte sein Buch "Les communistes et la paix", die Kommunisten und der Frieden, veröffentlicht, Claude Lefort einen über die Konzentratioslager in der Sowjetunion geschrieben.Sartre versuchte seine Publikation zu verhindern.Im April 1953 erschien dann Leforts "Le marxisme et Sartre".Jahrzehnte später wurde Sartre nach seiner damaligen Einseitigkeit befragt.Er sagte: "Es ist manchmal richtig, Unrecht zu haben" - und das ist symptomatisch für die Linke in dieser Frage. TAGESSPIEGEL: Für die Linke vielleicht.Im Kalten Krieg fehlte es aber nicht an Anstrengungen, das sowjetische System anzuprangern, wovon Courtois programmatisches Vorwort zum "Livre noir" nichts sagt. COHN-BENDIT: Es waren nicht die Rechten, die zuerst den Kommunismus angegriffen haben, sondern die Anarchisten, die Trotzkisten, bis hin zu Dissidenten.Das deutsche Problem war, auszusprechen, daß die Barbarei in Rußland angefangen hat, mit Stalin. TAGESSPIEGEL: Das erinnert an Ernst Nolte. COHN-BENDIT: Wenn Nolte sagt, hier geht der Mond auf, und da geht er unter, hat der Mann ja auch recht.Das System des Leninismus war ein System der Willkür und Repression.Die historische Tragödie Rußlands ist, daß die Menschewiken nach ihrem Sieg über den Zaren von den Bolschwiken abgelöst wurden, die sich an den Jakobinismus anlehnten.Dem historischen Ziel der "Befreiung des Menschen" war alles untergeordnet, es rechtfertigte die Unterdrückung jeder Opposition. TAGESSPIEGEL: "Die Befreiung des Menschen" klingt immerhin akzeptabler als eine mörderische Rassenideologie. COHN-BENDIT: Ja, diese Frage: was war schlimmer, der Stalinismus oder das Hitlerregime? Der Nationalsozialismus hat mit seinem Herrschaftsanspruch ein ganzes Volk auf den Todestrip geschickt.Die Folge waren Morde und Verbrechen.Das ist grauenvoll.Aber die Bolschewiken wollten Glück und Befreiung, und haben noch mehr Tote verursacht als die Nazis. TAGESSPIEGEL: Courtois spricht von hundert Millionen, dann wieder von "etwa 65 Millionen". COHN-BENDIT: Um die Zahlen sollte man nicht feilschen, wie es die Rechte mit den Zahlen der Pogromopfer des Dritten Reiches macht.Ich will sagen: Glück zu wollen, und millionenfachen Mord zu verursachen, ist noch schlimmer! Da stellt sich die Frage nach dem Marxismus, der als Ideologie einfach nicht lebbar ist.Er bezeichnet eine bestimmt historische Entwicklung als notwendig.Die Bolschewiken vollzogen also mit ihren Morden an den Kulaken, an der Bourgeoisie, mit den geplanten oder zugelassenen Hungersnöten, eine "Logik der Geschichte".Damit sind alle Einwände aus dem Feld geräumt. TAGESSPIEGEL: Davon verabschiedet sich ja die Linke, und weltweit nimmt sie Kurs auf die Demokratie. COHN-BENDIT: Ja.Wir haben damals die hier lebenden Iraner in ihrem Kampf gegen den Schah unterstützt.Dann kam Chomeini, und sie gingen zurück in ihr Land.Heute weinen sie und sagen, daß es unter dem Schah wenigstens etwas besser war.Die Alternative ist eben nur die Demokratie. TAGESSPIEGEL: Gut, aber weiter zu Nolte und dem Systemvergleich der Diktaturen.In einem Text über François Furet haben Sie vor Jahren gesagt, man müsse unterscheiden zwischen einem System, das universell denkt, wie die Sowjetunion es tat, und nationalistisch, wie das Dritte Reich. COHN-BENDIT: Die Sowjetunion war auch nationalistisch, es ging Lenin und Stalin genauso um Hegemonialbestrebungen.Da gab es zwei Möglichkeiten: entweder sie teilen sich die Macht - wie das beim Hitler-Stalin Pakt versuchsweise geschah - oder sie kämpfen, und einer bleibt übrig.Der Internationalismus war eine Sache der Linksabweichler und Anarchisten in der Sowjetunion - die wurden gnadenlos verfolgt und ausgeliefert.In Frankreich sprach die kommunistische Partei nach 1945 von ihren Feinden als von den "Hitlerotrotzkisten". TAGESSPIEGEL: Ein sehr diffuses Feindbild. COHN-BENDIT: Isaiah Berlin hat einmal geschrieben: in Deutschland wußte man als Verfolgter, woran man war.Man war Jude, Zigeuner, schwul oder Oppositioneller.In Rußland dagegen war das vollkommen willkürlich.Jeder konnte über nacht zum Konterrevolutionär werden. TAGESSPIEGEL: Es stand kein genetisches Phantasma hinter dem Feindbild. COHN-BENDIT: Ja, die Partei in der Sowjetunion war perfekter.Jeder kleine Parteiführer konnte jede Machtauseinandersetzung für seine Zwecke nutzen.In seinem mörderischen Alltag, in seiner Herrschaft der Kleinbürger und der Partei war das sowjetische System vergleichbar mit dem NS-System. TAGESSPIEGEL: Das "Schwarzbuch" listet alle kommunistischen Systeme gleichrangig auf, wenn die Opfersumme gezogen wird.Läßt sich Pol Pot denn wirklich mit Castro vergleichen? COHN-BENDIT: Genauso wie Hitler mit Mussolini.Die Versionen des Faschismus waren unterschiedlich in Spanien, Italien, Japan, Deutschland, ebenso wie es unterschiedliche Ausprägungen des kommunistischen Totalitarismus gab.Darum gehören alle Versionen des Kommunismus in dieses Buch. TAGESSPIEGEL: Könnte man nicht genauso ein Schwarzbuch des Kapitalismus schreiben, über Sklavenhandel, Kolonialismus, Kinderarbeit, Ölkriege? COHN-BENDIT: Wenn morgen einer das "Schwarzbuch des Kapitalismus" schreibt, bin ich keineswegs dagegen.Die Frage ist doch: welche Reformen sind nötig, damit Kapitalismus, soziale Gerechtigkeit, ökologisches Gleichgewicht und Demokratie kompatibel werden? Unser System ist heute viel zu ungleich und unsolidarisch, richtig.Aber wir können jetzt für Gleichheit und Solidarität kämpfen, wir können Mehrheitsveränderungen anstreben, ohne im KZ zu landen. TAGESSPIEGEL: Wir brauchen keine Revolution mehr? COHN-BENDIT: Die Revolution ist nichts als ein Reformstau, der sich nicht auflösen kann. TAGESSPIEGEL: Der explodiert? COHN-BENDIT: Ja, der explodiert, wie das der Fall war im Zarismus.Aber wenn hinter einer Revolution kein demokratisches Bewußtsein steckt, kommt nichts dabei raus.Ich wäre nicht bei den Grünen und im Europaparlament, wenn ich nicht an Veränderung glauben würde.Wenn wir unsere sozialökologischen Vorstellungen europaweit auf den Weg bringen, wäre das auch eine Art Revolution.Aber eine demokratische.Das heißt: man muß dem Kapitalismus Struktur geben.Nichts geht - das haben wir gelernt - ohne den Markt.Er muß reguliert werden, aber abschaffen kann und darf man ihn nicht. DANIEL COHN-BENDIT, als Sohn deutsch-jüdischer Emigranten 1945 in Frankreich geboren, wurde in den späten sechziger Jahren 1968 als Sprecher der "Pariser Mairevolution" bekannt.Der zweisprachige Soziologe lebt seit 1969 in Deutschland, engagierte sich in der Frankfurter "Szene" der siebziger Jahre und gehört zum Realo-Flügel von Bündnis 90/Die Grünen.

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