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Kultur: Die Luftkissen des Enthusiasmus

Deutschland, vom Osten aus betrachtet: Friedrich Dieckmann sammelt Essays aus vier Jahrzehnten

Von Hermann Rudolph

Die Essays von Friedrich Dieckmann werden vielleicht einmal zu den wichtigen Zeugnissen der Nachwendezeit gehören. Oder zumindest ihrer Brüche, Komplikationen und Errungenschaften – so wie sie sich aus der Sicht eines originellen Kopfes ausnehmen, der mit dem Hintergrund der Erfahrungen der „saxo-borussischen sozialistischen Republik“ (Dieckmann) lebt und denkt. Mehr als ein halbes Dutzend Sammelbände sind aus seiner Essay-Fabrik seit 1990 hervorgegangen. Nun ist beim Auskehren der Werkstatt noch ein Band hinzugekommen. Der Untertitel von „Die Freiheit, ein Augenblick“ verspricht Texte aus vier Jahrzehnten, aber das Übergewicht liegt doch beim vergangenen Jahrdutzend: dem Zeitraum, in dem Dieckmann mit einer wie aufgestaut wirkenden Äußerungslust in die Öffentlichkeit drängte.

Es wertet das Buch nicht ab, dass es enthält, was man Gelegenheitsarbeiten nennt – Musik-Schriftstellerei, Porträts, Biografisches. Dieckmanns großes Thema dringt überall durch: die Verfassung des vereinigten Deutschlands, ertastet und erörtert von seiner ostdeutschen Seite her. Das Politische im engeren Sinne steht dabei durchaus am Rande. Um so deutlicher ist in diesen Essays das Uneingelöste an dem großen Ereignis gegenwärtig – das Desiderat einer Einheit, die tatsächlich ungeteilt wäre, die Defensive, in die es die Ostdeutschen gebracht hat. Es ist ihr Anteil am deutschen Ganzen, den Dieckmann einfordert. Mit DDR-Nostalgie hat das nichts zu tun. In seinen Schriften steckt eine ganze Geschichtsphilosophie der Kritik und der Rechtfertigung dieses historischen Großversuchs, der zur Episode geworden ist.

Die Gegenstände seiner Arbeiten streuen weit – Bach in Leipzig, Goethe und Beethoven, Martin Walser und Volker Braun. Und überall teilt sich die Lebensluft dieser Essays mit: das Kunstschöne, dem Dieckmanns Passion gehört, die stupende Bildung, aus der er austeilt. Doch der Focus dieser Essays bleibt, was Dieckmann einmal das „inwendige Kulturleben“ der DDR genannt hat. Darunter darf man sich wohl das Geflecht fortwirkender Bildungsbürgerlichkeit, hinhaltender Selbstbehauptung und jener Aufsässigkeit vorstellen, die den Keim zum Wandel auch gegen die verhärteten staatlichen Strukturen lebendig erhielt.

Dieckmann möchte es aufgehoben sehen in einem Deutschland, das, wie er schreibt, „nicht mehr das westdeutsche Langwort für BRD“ ist. Darin zuckt ein tiefer Vorbehalt gegen die westdeutsche Bundesrepublik auf. Dieckmanns ausgleichendes Temperament, in dem der Herausgeber Sebastian Kleinschmidt etwas Konfuzianisches erkennt, kann darüber nicht hinwegtäuschen. In einem Gespräch über die Reise, die sein Vater, der DDR-Volkskammerpräsident, 1961, noch vor der Mauer, nach Marburg unternahm, wird dieser Vorbehalt zum Entwurf einer eigenen Lesart der Nachkriegszeit.

Darüber kann, ja muss man streiten. Worüber es allerdings keine Meinungsverschiedenheiten, sondern nur das Erstaunen geben kann, das sind Tonlage und Inhaltsfülle dieser Essays, ihre Fantasie, ihre Imaginationskraft. Dieckmann erspart seinen Lesern weder die Anstrengung der Abstraktion noch die Windungen und Wendungen einer hoch trainierten Dialektik. Er macht das Komplizierte wett durch eine vielgliedrige, biegsame Sprache, die den Essays bei allem Gewicht einen beschwingten Geist einhaucht. Gelegentlich streift seine Prosa das Altmeisterliche. Oft fährt sie auf den Luftkissen des Enthusiasmus dahin. Und immer wieder die Lust zu plötzlichen Weitblicken: Felsenstein, der Mann der Komischen Oper, als der Reinhardt der Nachkriegszeit? Die Lyrik-Debatte in der DDR in den 60er Jahren, die unter anderem Biermann hervorbrachte, als Entsprechung der Spiegel-Affaire im Westen?

Die Spannungsbögen, die Dieckmann vorführt, sind ebenso herausfordernd wie fruchtbar. Die biografischen Stücke zeigen sie abgestützt in der Herkunft: in Unordnung und frühem Leid der Kindheit im Kriege, im Dresdener Urnebel der Jahre des Aufwachsens, in den Umbrüchen der ersten deutschen Nachkriegsjahrzehnte. Diese Essays sind Beiträge zur deutsch-deutschen Selbstverständigung.

Friedrich Dieckmann: Die Freiheit ein Augenblick. Texte aus vier Jahrzehnten. Hg. von Therese Hörnigk und Sebastian Kleinschmidt. Theater der Zeit, Berlin 2002, Literaturforum im Brecht-Haus, 400 S., 16 €

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