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Kultur: "Die Nacht des Schicksals": Nur die Toten bringen Quoten

Manchmal ist die Verzweiflung so unheilbar wie das Leben, das sie hervorbringt. Wer nach ihrer Ursache forscht, für den wird die Wahrheit nicht selten zu einem verlassenen Olymp.

Manchmal ist die Verzweiflung so unheilbar wie das Leben, das sie hervorbringt. Wer nach ihrer Ursache forscht, für den wird die Wahrheit nicht selten zu einem verlassenen Olymp. Der Literaturwissenschaftler Peter Szondi war so ein Fahnder; vor fast 40 Jahren nahm er sich in Berlin das Leben. Sein Tod hat Klaus Pohl und den in New York lebenden Psychiater und Filmemacher Peter Stastny zu einem Stück über die Gelehrtenfamilie Szondi angeregt: ungarische Juden, die dem Naziterror entkamen.

Man feiert das Neujahrsfest. Peter, der sonst so scheue Literaturprofessor, hat sich bei den Eltern und seiner Schwester Vera in Sils Marie eingefunden, dort, wo Gott zu den Menschen spricht, wie Vater Leopold (Peter Bernhard) etwas pathetisch verkündet. Alle bemühen sich um Peter, offenbar einen schwierigen Gast, der bei früheren Besuchen wohl für nachhaltige Konflikte gesorgt hat.

Die Angst etwas Falsches zu sagen, begleitet die Gespräche. Unerbittlich lenkt Peter sie in die Vergangenheit, will vom Vater erfahren, wie das damals war, im KZ BergenBelsen, als man sich mit Hilfe des Journalisten Rudolf Kasztner von den Nazis freikaufte und zu jenen 1600 ungarischen Juden gehörte, die ausreisen durften. Unaufhörlich denkt er an jene, die zurückblieben, darunter Melanie, Tochter eines Rechtsanwaltes, in die sich der junge Szondi verliebte. Ein heftiger Streit beginnt, auf dessen Höhepunkt Peter seinen Vater als Nazi-Kollaborateur beschimpft.

Kaum ein gegenwärtiger Bühnenautor versteht so viel von kollektiven Verdrängungsmechanismen wie Klaus Pohl. All seine Stücke ("Das Alte Land", "Die schöne Fremde", "Karate-Billi kehrt zurück" oder "Jud Süß") handeln von der Schattenseite deutscher Geschichte. Das gilt auch für "Die Nacht des Schicksals". Daran änderte die Zusammenarbeit mit Peter Stastny nichts. Der Gefahr Pohlscher Texte, dem Biedersinn zu verfallen, den sie kritisch beschwören, entgeht der Heidelberger Abend nicht immer: Zwar gelingen Nikolaus Büchel durchaus beklemmende Momente im Schlagabtausch der Personen. Und Daniel Hajdu als Peter Szondi spielt sich sogar bisweilen überzeugend in die Abgründe einer absoluten Leere. Doch vieles an dem Text bleibt trockene Recherche, die Pohl, dieser literarische Konfektionär des schlechten deutschen Gewissens, mit all seinem Handwerk niedergeschrieben hat, ohne seinem Thema, dem Leiden am Überleben, Vitalität abzugewinnen.

Die Glücksfee kommt aus dem Nebel. Eine Tür öffnet sich, Lichtschein wird sichtbar, und dann erscheint sie im wabernden Dunst, beifallsumrauscht: Gunda. Sie trägt ein goldglitzerndes Kleid und moderiert die Talk-Show "Eine Stunde Glück". So heißt auch Sibylle Bergs auf der Werkraumbühne "Im Zwinger" des Heidelberger Stadttheaters uraufgeführte kleine böse Geschichte, die schrill und zynisch mit der "Big Brother"-TV-Mentalität und dem Psycho-Striptease unserer Tage abrechnet.

Ging es in Klaus Pohls und Peter Stastnys "Nacht des Schicksals" um das Leiden am Überleben, so beschreibt Sibylle Berg das Leiden am Alltag. Vier Studiogäste, zwei Frauen und zwei Männer, nehmen auf schwarzen Podesten in engen Stahlrohrstühlen Platz (Bühne: Anna-Sophia Blersch). Ermuntert von der bald raunenden, bald fordernden Stimme Gundas, die aus ihren Kandidaten nie genug Grausamkeiten hervorkitzeln kann, erzählen Renate, Sarah, Kurt und Paul über sich, über ihre Kindheit, ihre zerstörten Beziehungen, über Einsamkeit, Sex und Selbstverstümmelung. Der Gewinner erhält den großen Preis: Wer das traurigste Leben führt, darf es öffentlich per Stromstoß beenden.

Wolfgang Maria Bauers schonungslose Inszenierung geht unter die Haut. Bewundernswert, wie er Sibylle Bergs zuweilen recht dürftigen Text in den Griff bekommt und ein beklemmendes Endzeitspiel entwirft über die schöne neue Fernsehwelt mit all ihren schäbigen Begleitritualen. Die Reality-Show als Leitkultur: Wolfgang Maria Bauer, Heidelbergs Schauspielchef, bringt mit seinen großartigen Darstellern ein schwaches Stück auf Touren und hält zugleich wohltuend Abstand. Er seziert nicht, sondern präsentiert den "authentischen" Menschen, wie er in seinen Sehnsüchten nach irdischer Unsterblichkeit von den Medien missbraucht und ausgebeutet wird. Ein grausamer, ein ergreifender Abend.

Alfred Huber

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