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Kultur: Die nackte Ideologie

Heute wird der umstrittene Maler Willi Sitte 85. Zum Geburtstag bekommt er ein Museum in Merseburg

Es hätte ein Fest werden sollen, damals 2001. Doch dann kam alles anders. Für das Jahr seines 80. Geburtstags hatte das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg eine große Retrospektive des ostdeutschen Malers Willi Sitte angekündigt. Doch im Dezember 2000 beschloss der Verwaltungsrat des Museums, dem Politiker und Museumsleute angehören, die Ausstellung zu verschieben. Ehe man Sittes Werk präsentiere, müsse noch einmal über seine Rolle als Funktionär debattiert werden, vorbehaltlos, unter Berücksichtigung aller Dokumente. Sitte sagte daraufhin von sich aus ab. In den Feuilletons war von Zensur die Rede.

Heute nun feiert der im böhmischen Kratzau geborene Künstler seinen 85. Geburtstag. Als Geschenk gibt es nicht die Neuauflage der gescheiterten Ausstellung, sondern gleich ein ganzes Museum. In Merseburg südlich von Halle eröffnet am heutigen Abend in Anwesenheit des Jubilars die Willi-Sitte-Galerie. Zu den Rednern gehört auch Gerhard Schröder, der schon vor 1989 Ausstellungseröffnungen Sittes im Westen beehrt hatte.

Willi Sitte ist nicht irgendein prominenter DDR-Künstler: Er war derjenige, der den kunstpolitischen Kurs der SED am stärksten zu seinem eigenen gemacht hat. Ein Überzeugungstäter. 14 Jahre lang leitete er den Verband Bildender Künstler der DDR, dessen Mitglied man sein musste, um als Maler oder Bildhauer arbeiten zu dürfen. Sitte saß in der Volkskammer und zuletzt auch im ZK der SED. Ob er anderen Künstlern geschadet hat, darüber gehen die Meinungen auseinander. Der „Fall“ Sitte berührt nicht nur das Problem, wie objektiv Stasi-Akten oder die Aussagen betroffener Künstler wie Bärbel Bohley oder Eberhard Göschel sein können; er zielt auch auf eine Grundfrage der Kunstrezeption: Wie weit lassen sich Werke, Intentionen und Taten eines Künstlers trennen?

Mit der Präsentation in Merseburg soll Sitte endlich im neuen Deutschland ankommen. Das Galeriegebäude bietet dafür beste Voraussetzungen. Für 2,8 Millionen Euro baute das Merseburger Ingenieurbüro Weiß & Schellenberger mit der Architektin Claudia Janich den barocken Domherrenhof vis-à-vis von Dom und Schloss um. Bis zur mittelalterlichen Umfriedung des Dombergs spannt sich ein selbstbewusster kleiner Erweiterungsbau aus Beton, Stahl, Glas und rotbraunen Laminat-Panelen, der alles aufnimmt, was das Haus erst zum Museum macht: Foyer, Garderoben, Cafeteria.

Sanierung und Anbau wurden von EU, Bund, Land und Kommune finanziert; der Betrieb des Hauses steht auf improvisierten Fundamenten. Die Galerie ist ein Privatmuseum, gegründet von der „Willi-Sitte-Stiftung für realistische Kunst“, einem Club alter Sitte-Freunde. Gemeinsam wirbt man um Spenden, Zuschüsse der öffentlichen Hand gibt es nicht. Sitte, der rund 250 Gemälde und über 1000 Zeichnungen und Druckgrafiken gestiftet hat, sitzt im Kuratorium, seine Ehefrau im dreiköpfigen Vorstand.

Kritische Distanz dürfte von dieser Truppe nicht zu erwarten sein. Zumal für Hängung und Katalog eine kunstwissenschaftliche Arbeitsgruppe verantwortlich ist, die ausschließlich aus Verehrern besteht. Dazu gehören der Kunsthistoriker Peter Feist und Claus Pese, Leiter des Künstler-Archivs im Germanischen Nationalmuseum und Initiator der gescheiterten Ausstellung von 2001. Einen wissenschaftlichen Galerieleiter kann man sich nicht leisten. Wulf Brandstädter, Hallenser Architekt und Vorsitzender des Kuratoriums, setzt auf den Eröffnungseffekt: „Mit den Spenden, die wir im Augenblick haben, ist der Bestand der Galerie für ein halbes Jahr gesichert.“

Die Fahrt nach Merseburg lohnt trotzdem. Nirgendwo sonst sieht man so viel Sitte, dessen Arbeiten nach 1990 in den Depots verschwunden sind. Zu seinen berüchtigten, in barockem Pathos hingefetzten Arbeiterkolossen oder den im Liebeskampf schwitzenden Paaren, die der DDR-Volksmund mit dem Spruch „Lieber vom Leben gezeichnet als von Sitte gemalt“ kommentierte, gesellt sich ein Frühwerk von Rang. Kein anderer Maler der frühen DDR orientierte sich so international und machte so viel daraus. Statt Beckmann- oder Kokoschka-Paraphrasen bestimmen Picasso und die italienischen Futuristen Sittes Bildwelt. In Themen wie dem Massaker von Lidice oder dem Hochwasser am Po findet der überzeugte Kommunist gültige Sinnbilder der Menschheitskatastrophe. Ideologen galt sein düsterer Existenzialismus als westlich-dekadent. Um Karriere zu machen, passte sich Sitte an. Auch diese Metamorphose lohnte kritische Betrachtung. Stattdessen ballt sich im Obergeschoss das Spätwerk zu wahren Schreckenskabinetten nackten Menschenfleisches.

Was die Präsentation verharmlost: Bei Sitte gibt es nichts Unpolitisches. Im Foyer und an der Gartenfassade des Neubaus hängen Emailletafeln, die von einem Anfang der Neunzigerjahre in Suhl demontierten Wandbild stammen. In Merseburg firmieren die Fragmente als „Begegnung“ und „Der denkende Mensch“. Ursprünglich hieß das Werk „Kampf und Sieg der Arbeiterklasse“.

Willi-Sitte-Galerie Merseburg, Domstr. 15, Di bis Do 10–18, Fr bis So 10–17 Uhr.

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