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Überleben in Auschwitz. Barbara Dobrzanska als KZ-Insassin Marta und Christina Bock als ihre Aufseherin Lisa.

© Jochen Quast

„Die Passagierin“ an der Semperoper: Wir sind, was folgt

Wiedersehen mit der KZ-Wärterin: Eine erschütternde Produktion von Mieczysław Weinbergs „Die Passagierin“ an der Dresdner Semperoper.

Wir schreiben das Jahr 1960. Sonnenstrahlen, eine verheißungsvolle Überfahrt nach Brasilien. Franz Walter soll die junge Bundesrepublik dort diplomatisch vertreten, seine Karriere geht ihm über alles, der Krieg ist vorbei und soll vergessen werden. Doch Walters Frau Lisa erkennt in der Passagierin Martha ihre einstige Gefangene wieder, die sie in Auschwitz gepeinigt hat. Erinnerungen brechen auf, und das junge Glück wird wohl mehr von der Angst vor Entdeckung als vom schlechten Gewissen bedroht.

Zofia Posmysz gehört zu den letzten Zeitzeugen der Schrecken von Auschwitz und Ravensbrück. Die 94-jährige polnische Schriftstellerin verewigte ihre Erlebnisse in der Novelle „Die Passagierin aus der Kabine 45“. Mieczysław Weinberg, der selbst seine ganze Familie an den NS- Wahn verlor, vertonte das Libretto von Alexander Medwedjew 1968. Doch die Oper wurde trotz der nachdrücklichen Fürsprache Dmitri Schostakowitschs nicht in der Sowjetunion aufgeführt, erst nach dem Tod Weinbergs kam sie 2006 konzertant in Moskau heraus.

Die Größe des Stücks liegt im Perspektivenwechsel

Nach szenischen Produktionen in Russland, Frankfurt und Gelsenkirchen hat sich nun die Semperoper am Dresdner Theaterplatz an das Stück gewagt, dort also, wo allmontäglich Demonstranten in dumpfer Wut und blindem Hass gegen alles angrölen, was ihnen fremd erscheinen mag. An diesem Platz verströmt die Inszenierung von Anselm Weber durch ihre Kargheit eine besonders bedrückende Atmosphäre. Weber verlässt sich ganz auf die überragenden Qualitäten des Stücks. Katja Haß hat einen schon als Allegorie angelegten Schiffsrumpf gebaut, der als Ballsaal für die Nachkriegsfeierlaune und Lagerhof gleichermaßen dient – hier gibt es kein Entrinnen. Durch wenige Drehungen formt Weber daraus eine beklemmende Enge, in der menschliche Abgründe in krassem Kontrast zu menschlicher Größe stehen.

Die Rahmenhandlung fasst so die Ereignisse in Auschwitz ein und vermischt zusehends dramatisch historische Erinnerungen und die Realität der Nachkriegsverdrängung. Die Größe des Stücks liegt vor allem in ihrem Perspektivenwechsel: Heutige Geschichtsschreibung krankt daran, sich ähnlich einem Computerspiel an den kruden Gedankenkonstrukten und Gewaltexzessen der Täter zu weiden, während die Opfer als abstrakt- monströses Zahlenwerk daherkommen. Bei Posmysz und Weinberg dagegen bekommen sie ein Gesicht, erhalten durchaus unterschiedliche Charaktere und treten dank vieler kleinerer Rollen aus der anonymen Masse heraus.

Aus Figuren werden Menschen

Titelheldin Martha, völlig frei von moralinsaurem Pathos gesungen von Barbara Dobrzanska, setzt ihre Liebe zu Tadeusz (Markus Butter) in grellen Gegensatz zum brutalen Lageralltag, behauptet ihre Würde auch gegen die Machtspielchen der KZ-Aufseherin Lisa, die von Ensemblemitglied Christina Bock großartig ambivalent dargestellt wird. Doch selbst die kann dadurch humane Züge tragen, die zwar kein Mitleid verdienen, aber doch das Hineinversetzen möglich machen. Die Opfer interagieren mit den Tätern, deren Zynismus damit nur umso deutlicher herausgearbeitet wird. So werden aus Figuren Menschen. Und dieser überzeugte Humanismus ist es, der Weinbergs Oper in Dresden so ergreifend macht. Die Umsetzung gehört zu den erschütterndsten Produktionen der Semperoper seit langer Zeit.

Dabei ist es vor allem die Sächsische Staatskapelle, die unter der Leitung von Christoph Gedschold zwischen Lyrismus und Perkussivität ein berückendes Klangpanorama aus der meisterhaften Partitur erschaffen darf. Das Spektrum zwischen Dodekaphonie, Leitmotivik und Folklore ist unglaublich breit, und am eindrücklichsten ist Weinbergs Musik dann, wenn er in der Hölle des Grauens den Funken Menschsein porträtiert, etwa wenn die später ermordete Yvette (Larissa Wäspy) ihrer Mitinsassin versucht Französisch beizubringen oder Häftling Katja (Emily Dorn) a cappella ein russisches Volkslied singt. Ihren Höhepunkt erreicht die Oper in der Chaconne von Bach, die Tadeusz anstatt des von den Nazischergen geforderten Marsches spielt. Das schmerzt. Das treibt die Tränen in die Augen. Das greift an. Auch weil es so aktuell ist. Die Semperoper setzt mit Weinbergs „Die Passagierin“ den Grölern vor dem Haus ein wichtiges Zeichen gegen das Vergessen entgegen.

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