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Schürfen nach dem schwarzen Gold. Arbeiter vor den Bohrtürmen im Kaspischen Meer bei Baku.

© Sergei Ilnitsky/p-a/dpa

"Die Perser" von Alexander Ilitschewski: Dromedar am Meeresstrand

Mit Welimir Chlebnikows Segen: Alexander Ilitschewskis weltumspannender Bildungsroman „Der Perser“.

Erst ein vages Sehnen. Dann eine vertrackte Karambolage, die zum Katapultstart führte“: So beschreibt der Erzähler von Alexander Ilitschewskis Roman, der Geologe Ilja, den Weg zurück in seine Heimat. Auf der Erdöl-Insel Artjom im Kaspischen Meer ist er aufgewachsen; was ihn jetzt, nach langen Berufsjahren in Moskau und Amerika, nach Aserbaidschan zurückzwingt, ist ein Rätsel. Erst langsam beginnt er hier zu verstehen, warum er, der leidenschaftliche Naturwissenschaftler, auch ein Getriebener und Gottessucher ist.

Die in Ilja widerstreitenden Sphären durchdringen einander, zuletzt scheinbar ohne Rest – von dieser heftigen Bewegung erzählt der Mathematiker und Physiker Alexander Ilitschewski in seinem Roman. Er beschreibt ihn als Kugel, die ein leeres Zentrum umschließt: Jedes der achtunddreißig Kapitel, so erklärte er bei einer Lesung, sei vom Mittelpunkt des Kreises gleich weit entfernt. Und tatsächlich schließt das Bild der Kugel den opulenten, mitunter in sachbuchartige Exkurse ausschweifenden Roman auf. Ilitschewski erzählt mit immensem Wissen aus allen Bereichen der Region, von der politischen Geschichte über die Mikrobiologie bis zum Drachenfliegen. Das gelingt ihm bravourös.

Der kaspische Raum ist auch die Heimat des 1970 geborenen Alexander Ilitschewski, und außerdem eine Lieblingsgegend aller Russen. Die Wolga, die „das Licht der russischen Erde tropfenweise in sich aufnimmt“, mündet ins kaspische Meer, das sich somit als Fluchtpunkt für Reisen anbietet, für imaginierte und tatsächliche. Außerdem spiegeln sich in dieser Gegend, dem „Hinterhof des Imperiums“, die politischen Spannungen des letzten Jahrhunderts besonders heftig: Revolutionen und Kriege fanden hier hauptsächlich als Pogrome statt, wie der Blut-Januar 1990, als russische Panzer den Unabhängigkeitswillen der Aserbaidschaner niederwalzten und damit die Ermordung der dort lebenden Armenier beendeten.

Zwischen Bohrtürmen und Förderbrücken haben die Freunde Hasem und Ilja die Abenteuer des holländischen „Tulpenadmirals“ Kees nachgespielt (der sich im 17. Jahrhundert gegen die spanischen Besatzer auflehnte), mit der Lupe die Natur erkundet und sich in Hamlets Psyche vertieft. Als der Erzähler, inzwischen international geschätzter Erdölexperte, nach Baku zurückkehrt, versinkt er in den Gerüchen und Geräuschen der Stadt, die seinem Körper noch immer eingeschrieben sind. Diese Selbst- und Welterkundungen, akribisch beschrieben, gehören, neben den so exakten wie poetischen Schilderungen von Insekten, zu den schönsten Passagen des Buches.

Verfallende Villen, rätselhafte Skulpturen

Der Leser sieht die Stadt, die Ilja sich zurückerobert, im historischen Querschnitt: Er hört die Schüsse, sieht schlafende Rotarmisten auf den Straßen und erlebt den Untergang des weltoffenen Baku nach dem Bürgerkrieg. Als Kind hatte Ilja mehrere Camerae obscurae in der Stadt eingerichtet, die neben den verfallenden Luxusvillen von Nobel und Rothschild und strenger moderner Architektur auch eine rätselhafte Skulpturengruppe festhielten, die sich aus einem Fenster lehnt.

Ilja ist ein übersensibler Held, der an den tektonischen Schwingungen der Erde leidet und nach dem Urstoff des Lebens sucht – den er in bestimmten Bakterienstämmen vermutet. Für ihn gibt es nicht nur eine geologische, sondern auch eine zeitliche Achse der Welt, an der entlang alle Schichten und Erdzeitalter miteinander verbunden sind. Und er hat ein ausgeprägtes Gefühl für Resonanz: die wiederauflebende Freundschaft zu Hasem vibriert vor Daseinslust und Neugier, und alle Mitglieder der Kommune, die sich im Geiste Velimir Chlebnikows im Naturpark Sirvan zusammengefunden hat, entziffern mit der gleichen Leidenschaft und vielen schrägen Einfällen das „Buch der Natur“ – was sich höchst vergnüglich und inspirierend liest.

Hasem gilt nicht nur den Wildparkhegern, sondern auch den Kragentrappen, die er vor dem Aussterben bewahrt, als Gott, der sich per Flugdrachen und Kite-Brett durch die Steppe bewegt, Dreadlocks trägt, Jimi Hendrix hört, in Chlebnikows „Sternensprache“ dichtet und moderne englische Lyrik übersetzt. Eine eindrucksvolle Figur, halb Freak, halb Derwisch, Sufi-Anhänger und Biologe, der nicht zufällig dem Freund seine Erweckung als „Häutung“ schildert. Auch mit dem rationalen Apoll hat er sich, wie der Satyr Marsyas, um der Kunst willen angelegt. Seine Theaterinszenierungen lieben alle, und die Geburtstagsfeier für Chlebnikow gerät zum herzzerreißenden Dada-Schauspiel, mit wilden Rezitationen und beschriftetem Dromedar am Meeresstrand.

Auf dieser Insel der Seligen ist der Erzähler glücklich, hier hat er sein „erwachsenes Paradies“ gefunden, in dem er Hasems Imaginationen, wie die von der seriellen Ordnung des Vogelfederkleides, in mathematische Formeln verwandelt. Doch die saudischen Ölscheichs planen im Naturpark ihre nächste Falkenjagd – und wie der Autor diese Zerstörung schildert, mitreißend und realistisch bis an die Schmerzgrenze, überwältigend und banal zugleich, das ist groß. Andreas Tretner hat dieses Riesenwerk nicht nur souverän übersetzt, sondern auf storify.com (auch zugänglich über die Verlagswebsite) die einschlägigen historischen Bilder und Dokumente dazu gesammelt.

Alexander Ilitschewski: Der Perser. Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 750 Seiten, 36 €.

Nicole Henneberg

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