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Kultur: Die Physik der Literatur

Schon erstaunlich, wie still es um diesen Autor noch ist. "Ich möchte den einzigen Schriftsteller beglückwünschen, der besser ist als ich": Mit diesen Worten soll Gabriel Garcia Márquez seinen 33-jährigen mexikanischen Kollegen Jorge Volpi begrüßt haben.

Schon erstaunlich, wie still es um diesen Autor noch ist. "Ich möchte den einzigen Schriftsteller beglückwünschen, der besser ist als ich": Mit diesen Worten soll Gabriel Garcia Márquez seinen 33-jährigen mexikanischen Kollegen Jorge Volpi begrüßt haben.

Hat Márquez recht? Soviel zumindest stimmt: Volpi ist brillant. Der junge Schriftsteller muss nachts schreiben, denn tagsüber ("ich brauche den Kontakt zu Menschen") ist er Kulturattaché in Paris. In deutscher Übersetzung ist nun sein Buch "Das Klingsor-Paradox" (Klett-Cotta 2001, 508 S., 49 Mark) erschienen, dem gelingt, was so oft schon gescheitert ist: eine Probe der "dritten Kultur".

Dritte Kultur ist das, was FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in sein Feuilleton einzuführen versucht, das, womit der New Yorker Literatur-Agent John Brockman schon so manchen Wissenschaftler zum Millionär gemacht hat: Sie versucht die Verschmelzung von Literatur und Forschung, von Geistes- und Naturwissenschaft.

Was ist das "Klingsor-Paradox"? Ein Rätsel. Ein Spiel. Eine Geschichte der Physik im 20. Jahrhundert, Einstein taucht darin auf, die Liebe, Sex, Lügen. Klingsor ist der Deckname von Hitlers wissenschaftlichem Berater. Ein Mann, der, mysteriös und unfassbar, die Forschung im Dritten Reich kontrolliert. Damit ist das Buch auch ein Spiel mit den Verbrechen der Nazis - nicht die einzige "politische Unkorrektheit" des Autors.

"Vielleicht", sagt Volpi, sehr höflich, grazil, eine seltsame Mischung aus Selbstbewusstsein und Bescheidenheit, "vielleicht hat es mit dem mexikanischen Temperament zu tun?" Auch nach dem 11. September, dem Tag der Terroranschläge auf Amerika, hätten die Mexikaner mit Witzen reagiert. "In Frankreich kommt so etwas schlecht an, und vielleicht sind diese Witze auch schlecht. Aber wir haben offenbar weniger diese Hemmung, Gefühle zu verletzen."

Dabei ist "Klingsor" kein humoristisches Werk. Die Hauptfiguren des Romans, Francis P. Bacon und Gustav Links, sind hochintelligente Physiker, wobei insbesondere Bacon zwar mit Formeln, nicht aber mit Frauen umgehen kann (eine Schwäche des Buches: die Frauenfiguren bleiben bedauerlich blass). Der naive Theoretiker verlässt sein Labor-Dasein in Amerika, um am Ende des Zweiten Weltkriegs eine wichtige Mission zu erfüllen. Bacon soll Klingsor ausfindig machen. Bei seiner Suche bekommt er Hilfe von dem deutschen Physiker Links. Dieser Links ist es auch, der die Geschichte aufschreibt. An einer Stelle heißt es: "Alle Physiker sind Lügner." Links, der fiktive Autor des Buches, ist Physiker. Ist er Klingsor?

"Die Idee zum Buch bekam ich vor sieben Jahren", sagt Volpi. Sein Aussehen hat etwas Asiatisches, die Augen, die hellbraune Haut, das dünne schwarze Haar, diese extreme Höflichkeit. Er steigert sich in seine Erinnerung: wie er als Kind vor dem Fernseher hockt und die Show des Physikers Carl Sagan bewundert, eine Sendung über die Welt der Wissenschaft, das ganz Große und das ganz Kleine: die Sterne und die Atome.

1994, im Urlaub in Florenz, beginnt Volpi die Recherche. Kauft David Cassidys Biografie über Werner Heisenberg ("ein wunderbares Buch"), den deutschen Physiker der "Unschärferelation". "Er war groß und schlank", heißt es im Roman, "doch das Gesicht hätte fast einem Kind gehören können. Sein blondes Haar, so typisch deutsch, verlieh ihm eine unbehagliche Unschuld."

Hitlers Forschungsberater

Ist Heisenberg Klingsor? Volpi beschreibt seine Figuren realistisch, historisch genau, fast biografisch. Aber dann geht er immer einen Schritt weiter, verlässt die Fakten, bewegt sich in die Fiktion. Heisenberg wird plötzlich zum Hauptverdächtigen, Links überzeugt Bacon immer mehr davon, dass Heisenberg Klingsor ist - womit Heisenberg Gräueltaten ungeheuren Ausmaßes unterstellt werden. Ist das politisch korrekt? Gewiss nicht. Ist es wirkungsvoll? Es ist irritierend. Und ja, sehr wirkungsvoll.

"Das Klingsor-Paradox" ist ein Thriller der Quantenmechanik. Kein Mensch wird diese Physik verstehen, wenn er nur das Buch von Volpi liest. Sie gehört immerhin zu den kompliziertesten Theorien der Wissenschaftsgeschichte. Aber Volpi regt zum Weiterlesen an - und ein paar Grundideen vermittelt er doch: Er setzt die Quantenphysik mit den Mitteln der Literatur fort.

Heisenbergs berühmtester Gedanke nennt sich "Unschärferelation": Es ist unmöglich, gleichzeitig den Ort und die Geschwindigkeit eines atomaren Teilchens - des Elektrons - mit absoluter Genauigkeit zu bestimmen. Der Grund: Mit der Messung, die wir auch mit materiellen Teilchen, also Energie vornehmen müssen, beeinflussen wir das, was wir messen.

"Passive Beobachtung" der Natur ist im atomaren Bereich also nicht möglich. Heisenberg sah darin auch einen Dämpfer für das klassische Konzept der Kausalität. Das Schicksal eines Elektrons kann nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhergesagt werden - unabhängig davon, wie gut unsere Messinstrumente jemals werden. Mit der Quantenphysik gelangte der Zufall in die präziseste aller Wissenschaften: in die Physik.

Zufall und Unfassbares bestimmen auch Volpis Roman. Klingsor ist unfassbar wie ein atomares Teilchen. Gleichzeitig ist er ein Beispiel für den Satz des Mathematikers Kurt Gödel, der im Buch ebenfalls eine erheiternde Rolle spielt: den Satz nämlich, dass es sogar in der Mathematik Aussagen gibt, die zugleich wahr und unbeweisbar sind. Klingsor lässt sich bis zum Schluss weder fassen noch beweisen.

Und dennoch: Die genannten Physiker würden sich im Grab umdrehen, könnten sie das Buch von Volpi lesen. Quantenmechanik lässt sich auf Soziales nicht übertragen. Darauf weist sogar der Ich-Erzähler der Geschichte hin, der schließlich selbst Physiker ist. Und trotzdem kommt seine Fantasie in diese Versuchung. Ein Spiel.

So verfolgt Volpi Heisenbergs Unschärferelation noch beim Sex: In einer genialen Passage des Buches beobachtet Links heimlich seine eigene Frau beim erotischen Spiel mit der Frau seines besten Freundes. Das Liebesspiel der beiden Frauen fasziniert, ja erregt ihn. Und Links versucht, den beiden Frauen immer wieder Gelegenheiten zu schaffen, zusammenzukommen, er, der Voyeur, wird zum Drahtzieher eines Schauspiels, in das er nur scheinbar nicht eingreift - bis zum erschütternden Ende.

"Eigentlich spreche ich ja nicht darüber", sagt Volpi. Aber je mehr man über die Physik und die Szenen und Gedanken in seinem Buch spricht, um so begeisterter wird er, unterbricht, kann es gar nicht erwarten, selbst noch etwas zu sagen, noch "etwas ganz Wichtiges" hinzuzufügen. "Aber", sagt er schließlich, "Klingsor ist der erste Teil einer Trilogie." Volpi plant nichts Geringeres, als eine, seine Geschichte des 20. Jahrhunderts zu schreiben.

Wenn er abends in Paris nach Hause kommt, oft erst um Mitternacht, setzt er sich hin, um noch ein paar Stunden zu schreiben. Am zweiten Teil der Trilogie. Das nächste Buch spielt in den 60er und 70er Jahren, in Lateinamerika und Frankreich, "über die Revolution", sagt Volpi. Und der dritte und letzte Teil? "Top-Secret", sagt er. "Klingsor endet mit dem Fall der Mauer", sagt er dann. "Der dritte Teil soll genau da beginnen." Vieles wird also wieder in Deutschland spielen? Volpi nickt lächelnd. "Aber sagen Sie es nicht weiter."

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