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Kultur: Die Pizza-Connection

Der Italiener Nick di Camillo kam 1946 als Küchenjunge der US-Army nach Nürnberg. 1952 eröffnete er in Würzburg das erste italienische Lokal auf deutschem Boden.

Wir kommen zur Geschichte der ersten Pizzeria auf deutschem Boden. Wir kommen zu Nicolino di Camillo.

Nicolino di Camillo wurde 1921 in dem kleinen italienischen Dorf Villa Magna geboren, das ist in den Abruzzen, den Bergen bei Pescara an der Adria, östlich von Rom. Sein Vater betrieb mit Hilfe eines Eselskarrens einen Schuhhandel. Bruder und Schwester dieses Vaters waren, weil es hier nicht viel zu verdienen gab, nach Philadelphia ausgewandert. Der Vater wollte nachkommen, aber das ging nicht. Seine Mutter, Nicolinos Großmutter, verbot es ihm. Sie wollte nicht alle Kinder an das große Amerika verlieren.

So kam Nicolino nicht in Philadelphia, sondern in den Abruzzen zur Welt. Aber die Amerikaner sollten dennoch sein Leben entscheiden.

Nicolino, das ist: der kleine Nicola, Nicolchen. Er wuchs heran, wurde Verkäufer für Herrenbekleidung, dann Soldat, zog nach Russland. Als er zurückkehrte, war Italien am Boden. Es gab keine Arbeit. Glücklicherweise hatte Nicolino bei der Armee den Führerschein gemacht. Er fand einen Job bei den britischen Soldaten in Ancona, ein bisschen nördlich von Pescara. Er fuhr Lastwagen, transportierte Ersatzteile und Reifen nach Salzburg, München, Nürnberg.

Eines Tages, 1946, wurde die Einheit, für die er arbeitete, nach Norddeutschland verlegt, in die nunmehr britische Zone. Nicolino zog mit. Aber er blieb in Nürnberg hängen, wo die US-Army war. Er wurde Küchengehilfe bei der 777th Head Quarter Battery; am 31. März 1946 war das, er hat die Arbeitsbescheinigung bis heute aufbewahrt.

In Nürnberg traf er einen Mann namens Silvio Coletti, der arbeitete für die Special Services der Amerikaner, die Truppenunterhaltung. Colettis Vater stammte aus den Abruzzen und war nach Amerika ausgewandert. Silvio sprach deshalb Italienisch mit dem gleichen Akzent wie Nicolino, eine Tatsache, die Italiener in der Fremde stets sofort sehr eng verbindet. Dabei war Coletti gar kein Italiener mehr, sondern Amerikaner. Aber er gab dem Mann aus dem Süden sofort Arbeit.

Nicolino hieß jetzt Nick.

Er transportierte Filmrollen zwischen den Kinos der Army in Franken hin und her, manchmal fuhr er auch Teilnehmer an den Nürnberger Prozessen zum Gericht. Coletti eröffnete einen Country Club für die Soldaten in Fürth. Dort wurde Nick Doorman; er begrüßte die Gäste, brachte sie zu ihren Tischen, rückte die Stühle zurecht.

Überall arbeiteten hier Amerikaner, die aus Italien stammten, und Italiener, die aus Italien gekommen waren, Valerio aus Turin zum Beispiel – der war in der Küche. Es gab Steaks im Country Club, aber vor allem gab es Pasta und Pizza, die waren an der Ostküste der USA damals schon ziemlich populär, nicht so im Westen.

Die vielen eingewanderten Italiener waren ja meistens schon im Osten hängen geblieben, in New York, Boston, Philadelphia, Chicago, und hatten dort Lokale eröffnet.

Nick di Camillo sagt, auch er habe jetzt immer mehr daran gedacht, ein Restaurant zu eröffnen. „Der Gedanke ist mich immer in Kopf gekommen“, sagt er. Er spricht bis heute ein bisschen gebrochen Deutsch, streut Italienisches ein – die Mischung, die Deutsche an Italienern so lieben. Außerdem spricht er oft Englisch, fast 60 Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland immer noch Englisch.

Es war aber nicht möglich, so ein Lokal zu besitzen. Den Amerikanern war Fraternisierung verboten, sie durften nur ihre eigenen Restaurants besuchen.

1950 lernte Nick eine Deutsche kennen, Janina Schmitt. Die war damals 18 und Tänzerin an der Oper in Nürnberg. Er sprach sie an, doch sie ging einfach weiter, beim ersten Mal jedenfalls – später dann nicht mehr. Janina Schmitt sagt, sie habe damals noch nicht an Männer gedacht. Und dann – ein Italiener! Nick sprach ja damals kein Wort Deutsch. Sie redeten schließlich Englisch.

Heute benutzen sie untereinander dieses Kauderwelsch aus Deutsch, Italienisch, Englisch. Sie sind seit 50 Jahren verheiratet.

Janina Schmitt hatte Englisch in der Schule gelernt. Sie stammte aus Würzburg. Als die Stadt am 16. März 1945 durch Bomben fast vollständig zerstört wurde, flüchtete sie mit ihrer Mutter aufs Land, zuerst nach Randersacker, dann nach Ochsenfurt. Sie saß auf einem Ochsenkarren, Tiefflieger griffen immer wieder an, alle mussten sich in den Graben werfen. In Ochsenfurt ging sie eine Weile zur Schule, schlief bei einer Tante. Sie war 13 und lag schon im Bett, als man sie eines Abends herausholte: Die Erwachsenen konnten kein Englisch, aber vor der Tür stand ein Amerikaner. Er war riesengroß und schwarz, und niemand verstand, was er wollte. Janina war klein und in ein weißes Laken gewickelt, sie zitterte am ganzen Leib. Der Soldat sagte, er benötige hot water für seinen Tee.

„Er will nur heißes Wasser, nur heißes Wasser“, stammelte Janina.

Der Soldat sei mindestens so erschrocken gewesen wie sie: über dieses zitternde Mädchen. Er schenkte ihr einen Riegel Hershey-Schokolade.

„Das war mein erster Amerikaner“, sagt sie heute. Überall im Land begegneten in diesen Tagen deutsche Kinder ihrem ersten Amerikaner.

27 Mark am ersten Tag

Sie war mit 18 ein schöne junge Frau und ist heute eine dieser bewundernswerten älteren Damen, feingliedrig und doch robust, eine Frau voller Haltung und Stil. Neben ihr: Nick di Camillo, 82 Jahre alt, makellos gekleidet, einen schmalen Clark-Gable-Bart unter der Nase – besser kann einer nicht aussehen in diesem Alter.

„Damals war er der Schwarm aller Frauen“, sagt Janina.

Sie leben heute manchmal in Würzburg und manchmal am Gardasee, und jetzt sitzen sie hier an einem Tisch nebeneinander, und alles zwischen ihnen scheint aufeinander abgestimmt: wie sie sich ansehen, wie sie aufeinander reagieren, ohne Gereiztheit, reine Harmonie. Es war Zufall, dass sie sich damals begegnet sind, der Mann aus den Abruzzen und die schöne Fränkin. Manchmal denkt man, die ganze Wirrnis der Weltgeschichte gebe es nur, damit solche Zufälle geschehen können. Oder es sind eben diese Zufälle, die überhaupt die Welt erträglich machen.

Sagte ich schon, dass sie jetzt seit 50 Jahren verheiratet sind?

Nick fuhr damals mit Janina zu ihren Eltern nach Würzburg. Sie stellte ihn vor. Er verstand nicht, was sie sagten, und sie kapierten nicht, was er sprach. Aber sie mochten sich. „Ich hatte sehr jugendliche Eltern“, sagt Janina. Nur eine Tante gab es, die war anfangs nicht begeistert. Später ließ sie keine Gelegenheit aus, zu erzählen, dass Nick „der beste Mensch der Welt“ sei.

Er dachte immer noch an das Lokal, das er haben wollte.

Nicht weit von Janina Schmitts Elternhaus entdeckte er 1952 eines der wenigen nicht zerstörten Gebäude Würzburgs, ein niedriges Häuschen in der Elefantengasse, das sich irgendwie unter dem Bombenhagel weggeduckt hatte. Darin war eine Weile ein Lokal namens „Uffenheimer Bräustübl“ gewesen, aber der Wirt hatte wieder schließen müssen. Nun befand sich ein Schuhlager in den Räumen. Nick di Camillo fuhr mit seinem Schwiegervater zur Brauerei und erzählte von seinem Plan. Was er denn den Gästen bieten wolle, fragte man.

„Pizza zum Beispiel“, sagte er.

„Pizza?“

Na ja, er bekam den Vertrag. Aber der Brauereibesitzer diktierte, das Lokal müsse weiterhin „Uffenheimer Bräustübl“ heißen und Bier verkaufen.

Am 24. März 1952 eröffneten Janina und Nick di Camillo ihr Restaurant. Am ersten Tag nahmen sie 27 Mark ein. Am zweiten 35. Am dritten 200. Nach sechs Monaten rief der Brauereibesitzer an und sagte, sie dürften ihr Lokal nennen, wie sie wollten, bloß bleiben müssten sie. Sie nannten ihr Lokal „Sabbie di Capri“. Sabbia ist der Sand, nebenan liegt ja die Sanderstraße, die kennt in Würzburg jeder. Und Capri – das war nun mal auf der ganzen Welt ein Sinnbild Italiens. Nur Janina und Nick waren noch nie dort gewesen.

Sie boten Spaghetti mit Fleischklößchen an, wie man sie in den Abruzzen isst, und natürlich Pizza aus sehr dünnem Teig mit möglichst vielfältigem Belag, wie die Amerikaner sie mögen. Denn die Amerikaner waren ihre ersten Gäste, jahrelang. Nicht die Deutschen. Die hatten erstens kein Geld, und zweitens konnten sie mit italienischem Essen nicht viel anfangen.

Die US-Soldaten saßen von Anfang an im Capri. Nick di Camillo hat ein Foto, auf dem er zusammen mit vier Amerikanern zu sehen ist, alle Arm in Arm und alle italienischer Abstammung, De Flavio hieß zum Beispiel einer. Jahrzehnte später trafen sich die vier irgendwo in South Carolina, um Erinnerungen auszutauschen. Sie schickten Nick ein Bild, darauf sah man vier dicke US-Bürger.

Nick di Camillo gab jedem Würzburger Taxifahrer, der ihm Gäste brachte, ein Trinkgeld. Er ließ seine Kontakte spielen. In seiner Küche arbeitete Valerio, der Turiner aus dem Country Club. Er veranstaltete Pizzapartys in den Kasernen, bei denen er Gratisessen spendierte und für die er übrigens ganz nebenbei den Pizzatransportkarton aus Pappe konstruierte – Nick dürfte dessen Erfinder sein. Jedenfalls behauptet er das, wie er auch seit Jahrzehnten behauptet, die erste Pizzeria in Deutschland eröffnet zu haben. Er ist dafür mit allerhand Auszeichnungen bedacht worden, unter anderem der eines „Cavaliere della Repubblica“. Niemand hat ihm je widersprochen. Also wird es wahr sein.

Und die Deutschen. Wann kamen sie? Wann aßen sie „Pizza Standard“ mit Tomaten und Käse und „Pizza de Lux“ mit Tomaten, Käse, Salami und Pilzen?

Es dauerte. Die Frauen hätten sich ja zuerst an das Neue gewöhnt, sagt Janina di Camillo, bei den Männern habe es länger gedauert. Zuerst brachten die Amerikaner deutsche Mädchen mit, dann kamen die deutschen Mädchen mit ihren Familien. Der erste deutsche Stammgast hieß Dr. Zimmermann, ein Rechtsanwalt aus der Nachbarschaft. An ihn erinnert bis heute die „Pizza Carpentiere“, die Zimmermanns-Pizza also, eine um Anchovis ergänzte „Pizza de Lux“, wie sie Dr. Zimmermann am liebsten aß.

Mitte der 50er Jahre reiste das Ehepaar di Camillo zum ersten Mal nach Capri und besichtigte die Blaue Grotte. Als sie zurückkehrten, stand Nicks Entschluss fest, diese Blaue Grotte im Keller unter seinem Lokal nachzubauen. Da unten lag bis 1956 nur dies und jenes herum, auch die Kohlen für die Heizung, „ein store room“, sagt Nick, ein Lager. Oben das Restaurant selbst war nur klein, sieben Tische.

In Rimini an der Juke-Box

In der Nähe gab es einen Orthopäden, der hieß Willi Haas und beschäftigte Leute, die mit Gips umgehen konnten. Nick engagierte sie. Die Männer bauten mit Pappmaché aus zerkleinerten Tomatenkartons und mit Gips eine Grotte, die wurde blau gestrichen. Die Bar wurde geformt wie eine venezianische Gondola. Ofenrohre wurden verkleidet wie römische Säulen.

So sieht das noch heute aus. „Alles meine Fantasie“, sagt Nick, „alles mit meinen Gedanken, niemand hat mir mit dies geholfen.“ Man steht da und fühlt sich wie in einem Traum aus jener lang vergangenen Zeit, in der die Deutschen in VW-Käfern nach Süden reisten und Italiener nach Norden kamen, um diese VW-Käfer zu bauen. Und Eisdielen zu eröffnen. Und Pizzerien. Ein Gefühl, als berühre man für einen Moment die Kindheit dieses Landes. Falls Länder eine Kindheit haben.

„Salve“ steht über der Tür. Die Treppenwände hat der berühmte Rupert Stöckl bemalt, später hat das ein anderer Pächter übermalen lassen, nicht zu glauben, aber wahr.

Nick holt die Fotos und sein altes Gästebuch. Der erste Eintrag stammt vom 2. August 1952, Lieutenant Manganelli wünscht „success and happiness“. Später kommt dann Helmut Zacharias, der berühmte Geiger: „Du und Deine Spaghetti realisieren der Welt größtes Gottesgeschenk – Italien.“ Das war im April 1955. Da waren auch die Drei Travellers zu Gast, die kannte damals das ganze Land. Sie schrieben, am selben Tag wie Zacharias:

„Hab vielen Dank – Freund Nicolino –

›che bello‹ war Dein roter Vino –

drum kommen wir bald wieder her,

dann ›prosten‹ wir noch etwas mehr.“

Auch drei Söhne von Bing Crosby stehen im Gästebuch, die waren alle Soldaten in Deutschland, zwei in Schweinfurt bei der 16. Infanteriedivision, einer in Frankfurt-Höchst beim Radiosender AFN. Auf den Fotos: Bernhard Wicki, Veit Relin, Lolita, Fee von Zitzewitz (die Miss Germany 1967), Rocco Granata, Lou van Burg, Gus Backus, Nicole Heesters. In der Nähe waren ja die Huttensäle, da gastierten viele von ihnen, und hinterher aßen sie bei Janina und Nick.

Nick reiste im Sommer an die Adriastrände; er stellte sich in Rimini und anderswo in den Lokalen neben die Juke Box und beobachtete, welche italienischen Lieder die Deutschen sich aussuchten. Diese Platten kaufte er, spielte sie in seinem Restaurant, und wenn die Würzburger aus den Ferien zurückkamen, hörten sie im Capri schon ihre Lieblingsmusik des vergangenen Sommers.

Jahr für Jahr steigerten Janina und Nick ihren Umsatz, immer ging es aufwärts, jeden Tag arbeiteten sie von vormittags bis tief in die Nacht. Bald konnten sie das Haus kaufen, in dem sich das Capri befindet, es gehörte einem Zahnarzt. Schon in den 50er Jahren kam Bruder Giuseppe aus Italien, um zu helfen. Janina und Nick haben keine Kinder, der Bruder aber hat drei – sie überließen ihm 1971 das Capri und eröffneten in der Innenstadt das Bologna, in der Dominikanerstraße, da sei heute, sagt Nick, come si chiama, wie heißt das Wort?…, ja, die „Fußgängerzone“. Das Bologna führten sie zehn Jahre, dann zogen sie sich zurück, in den Ruhestand.

Der Nachfolger, einer ihrer Kellner, hatte weniger Glück, er musste aufgeben. Heute findet man an dieser Stelle ein Pizza Hut. Das Capri gehört einem Rumänen und seiner deutschen Frau, doch die Karte liest sich wie einst bei Nick. Er sitzt hier auch oft, nach wie vor, und isst sein Leibgericht, Spaghetti mit Fleischklößchen.

Aber jetzt ist Nachmittag, vier Uhr. Wir sitzen allein im Capri. Nick erzählt, einmal sei hier ein Amerikaner gewesen, der habe seine Visitenkarte mitgenommen. In Amerika sei er irgendwo in Pennsylvania in ein Lokal namens High Hat Tavern gegangen. Er sei mit dem Besitzer ins Gespräch gekommen, habe ihm schließlich von jenem Italiener erzählt, der in Deutschland die erste Pizzeria eröffnet habe und die Visitenkarte hervorgeholt.

Und wer war der Mann, dem die High Hat Tavern gehörte? Silvio Coletti, der Mann, der ihm damals im Country Club Arbeit gab.

Die Tür des Lokals geht auf. Ein junger Mann kommt herein. Er fragt mit stockender Stimme nach dem Besitzer.

Nick sagt, der Besitzer sei nach oben gegangen, er habe gerade Pause. Ob er später wiederkommen könne?

Der Mann versteht die Antwort nicht. Er bleibt stehen und wartet.

„Sind Sie Italiener?“, fragt Nick auf Italienisch.

Das Gesicht des Mannes hellt sich auf. „Si“, sagt er. Und beginnt sofort Italienisch zu reden: dass er Arbeit suche, dass er deshalb den Besitzer sprechen wolle, dass…

„Sie müssen später wiederkommen“, sagt Nick. Er wünscht ihm Glück.

Der Mann verabschiedet sich. Er werde dann am Abend wieder da sein, sagt er. Und geht. Ein Italiener, der in Deutschland sein Glück sucht. Eine andere Geschichte in einer anderen Zeit.

Den Text entnehmen wir: Axel Hacke: Deutschlandalbum, 256 Seiten mit zahlreichen Fotos, Verlag Antje Kunstmann, München 2004, 19,90 Euro.

Axel Hacke

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