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Kultur: Die Priesterkaste läuft Amok

Der Schein trügt.275 Jahre nach seiner ersten Aufführung kann man dieses Werk nicht verständig konsumieren, außer man überhört die textlichen und musikalischen Zumutungen geflissentlich.

Der Schein trügt.275 Jahre nach seiner ersten Aufführung kann man dieses Werk nicht verständig konsumieren, außer man überhört die textlichen und musikalischen Zumutungen geflissentlich.Wenn die von Jesus unbeantwortet gelassene Frage des Pilatus "Was ist Wahrheit?" auch im musikalischen Sinn unbeantwortet bleiben muß, so gibt es doch verschieden stimmige Aufführungen dieser Passion.Die vom Mittwoch abend war eine von den stimmigen, obwohl nur bedingt konventionell.

Vielleicht ist es gar nicht so abwegig, ein Opernorchester an die stark von der italienischen opera seria beeinflußte Johannespassion von Bach heranzulassen, denn sie zeigt sein Gespür für die musikalisch darstellbare Dramatik dieser Evangelisteninszenierung und deren mystische Überhöhung.Im Schauspielhaus stand der inszenierende Evangelist mit seinen um sich versammelten Protagonisten, Choristen und Instrumentalisten in der Person des völlig auswendig agierenden Peter Schreier wie ein antiker Sänger und Chronist tief im hinteren Teil der Bühne.Er hatte das verschlankte Staatsopernorchester, den Rücken dem Publikum halb zugekehrt, vor sich, die Solisten neben sich, den Chor hinter sich und dirigierte die konzertante Aufführung eines religiösen Musikdramas.

Das entscheidende Mittel, die Stimmung zur Kreuzigung hin zu steigern, nämlich ausgerechnet die Kreuztonarten mit der Quintenzirkelschraube hochzudrehen, stellt den Chor vor heikle Stimmungsprobleme technischer Art, die der Leipziger Rundfunkchor glänzend meisterte.Ein unleugbarer antijüdischer Affekt kommt auch bei Bach zum Ausdruck, wenn er mit der rhetorischen Figur der Perfidia die tötungswillige Priesterkaste und den geifernden Volkshaufen in den Turba-Chören Amok laufen läßt.Schwer vorstellbar, daß Bach mit dem selbstgerechten Gottesvolk, das den Gottessohn nicht bei sich dulden will, nur das jüdische Volk der Antike meinte.

Von den Trauermarsch-Schritten des Eingangschores bis zum Begräbnismenuett des Schlußchores, der das Grab als Himmelsschlüssel glaubhaft machte, von den Frechheiten der Volksmassen bis zu den Fermaten vernachlässigenden, fließende Meditationen der Choräle folgte der MDR-Chor ziemlich getreu den Bachschen Charakterisierungsabsichten.Ohne mit historisierenden Aufführungen konkurrieren zu wollen, spielte das Opernorchester schlackenfrei und akzentuiert, wußte jeweils unterschiedliche Rollen als dezenter Verdoppler des Chores oder exponierter Begleiter mit markanten Figuren treffend auszufüllen.Robert Holl als Jesus, eher mit einem böse dräuenden Baß ausgestattet, konnte ihn bei den Kreuzesworten ins Liebliche umschmelzen, an Hanno Müller-Brachmanns Baßbariton gefiel, wie leicht und doch mit genug Schwerkraft behaftet er durch die Koloraturen eilte, während es der Tenorstimme von Gert Henning-Jensen an Tragfähigkeit und Intonationssicherheit gebrach.Wunderbar die Altistin Anna Larsson: Klage und Jubel, Trauer und Dank, im religiösen Verständnis so dicht beieinanderliegend, wollten auch so unauffällig gewechselt sein.Die Sopranistin Simone Nold sang zauberhaft, christliche Minne konnte man ihr wohl, fließende Zähren weniger abnehmen.

PETER SÜHRING

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