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Kultur: Die Querköpfige

Laudatio für die Alfred-Kerr-Preisträgerin Fritzi Haberlandt / Von Ivan Nagel

Aus der Arbeit der vergleichenden Betrachtung stellt sich die Frage, ob der jahrelange, zeitweise sehr gesunde Sparkurs der Theater nicht langsam in eine fatale Qualitätsschere umschlägt.“ Der Sparkurs schlägt in eine Schere um: Der Satz stammt vom Sprecher der Jury des Theatertreffens 2003. Mir scheint dagegen: „Die Arbeit der vergleichenden Betrachtung“ dieser Jury selbst ist, nicht nur was Sprache angeht, „in eine fatale Qualitätsschere“ umgeschlagen. Ich sah beim Treffen deutschsprachiger Theater zweieinhalb hervorragende, zweieinhalb nette und vier unerträglich dumme Aufführungen.

Das mindert nicht meine Freude, den AlfredKerr-Preis für junge Schauspieler 2003 Fritzi Haberlandt zusprechen zu dürfen. Aber es erklärt zweierlei: Warum sie in gerade diesem Theatertreffen kaum einen Konkurrenten, eine Konkurrentin hatte; und warum meine Liebe und Verehrung für ihre starken und ansprechenden Gaben sich keineswegs nur an die beiden Rollen heften, die sie (in „Liebelei“ und in „zeit zu lieben zeit zu sterben“) uns diesmal zeigen konnte. Ich denke an die zweiundzwanzigjährige Schülerin der Ernst-Busch-Schule, die ich in Gertrude Steins und Robert Wilsons „Saints and Singing“ 1997 zum erstenmal auf der Bühne sah – und von der ich, obwohl das gleichsam ein Kollektiv-Stück mit dreizehn deutschen und italienischen Schauspielschülern war, den ganzen Abend kaum wegschauen konnte. Ich denke an ihre Lucile in „Dantons Tod“ 1998 am Berliner Ensemble und an ihre Julika in „Liliom“ 2001 am Thalia Theater. Jedesmal war sie entschieden – und niemals grob. Jedesmal spielte sie klar – und poetisch.

Poesie ist, so erfährt es der Zuschauer von Fritzi Haberlandt, nichts Verschwommenes. Poesie ist, die schönsten Gedichte von Sappho bis Rimbaud lehren es, mutig und genau. Die Menschen, die diese Schauspielerin darstellt, dürfen von ihr keine nebelumhüllte Schonung erwarten – aber sie müssen auch keinen kaltschnäuzigen Verrat befürchten. Sie will ihnen für keine Sekunde überlegen sein: gerade weil sie weiß, sie sind ihr ausgeliefert. Vom Fühlen und Verstehen der Schauspielerin hängt es ab, ob diese Menschen ein Paar Bühnenstunden lang leben oder tot bleiben. Fritzi Haberlandt vermag es, ihren schlimmsten Härten und Schwächen, aber auch ihrer Güte und Lebenskraft Realität wie Beseelung zu geben.

Sie hat etwas Querköpfiges im wörtlichen, physiognomischen Sinne. Ihre Mizi in Thalheimers unterhaltsam minimalistischer Fassung von Schnitzlers „Liebelei“ ist wahrhaft keine Sympathiefigur. Aber dieses zugleich sinnliche und zynische Wesen erscheint, ein kluges Paradox, ungleich tapferer als ihre liebesoffene, hingebungsbereite Gegenspielerin Christine. Denn Tapferkeit braucht es, nicht auf den sich selbst belügenden Illusionismus ihres Kleinbürgermilieus hereinzufallen, sondern der Verkommenheit unserer Männerwelt, Zwei-Geschlechter-Welt ins schielende Auge zu sehen. An Haberlandts jungen Frauen erfährt man eine körperliche, ja fleischliche Kraft zum Überleben – und man erfährt das Widerwärtige, Gewaltverzerrte einer Welt, die einer Frau schon zum bloßen Überleben eine derartige Kraft abfordert.

Ihr Körper hat etwas Sehniges. Er ist greifbar, verweigert sich jeder Vor-Ästhetisierung. Man käme nicht auf die Idee, dass sie mit diesem Körper nie gearbeitet, Kohlen geschleppt, Boden geschrubbt hat. Ich lobe mir das Unfeine einiger der besten deutschen Schauspielerinnen der letzten dreißig Jahre. Ihre Kraft wurzelt in irgend etwas Kleinbürgerlichem. Kleinbürgerliche Männer sind in diesem Land, auch auf der Bühne, oft nicht fest, sondern nur beschränkt, nicht stark, sondern brutal. Die jungen Kleinbürgerinnen aber haben einen nicht totzuschlagenden Willen zum eigenen Leben, zum eigenen Recht. Edith Clevers Luise in „Kabale und Liebe“, Isabella in „Maß für Maß“, Barbara Sukowas Marion in „Dantons Tod“, Hilde Wangel in „Baumeister Solness“ hatten diese Hinterhofskraft. Auch Annette Paulmann, Dörte Lysewski und, ja, Fritzi Haberlandt gehören zu dieser wunderbaren Rasse.

Ich kann kaum erwarten, dass Fritzi Haberlandt der Schiller’schen Jungfrau, den Mariannen und Karolinen von Horváth, der Shen Te und der Schlachthof-Johanna von Brecht ihr schlankes und kräftiges Paar Beine schenkt, damit sie endlich fest auf dem Boden stehen. Dazu würden allerdings einige junge Regisseure gehören (so kommen wir leider zum diesjährigen Theatertreffen zurück), die mit einer ähnlichen Kraft und Stetigkeit arbeiten können und wollen, die auf eine gelungene, gescheite Inszenierung nicht drei schwächliche, dümmliche folgen lassen. Noch die stärkste, unabhängigste junge Schauspielerin braucht Regisseure (vorzugsweise aus ihrer eigenen Generation), die sich vor Stücken nicht jedesmal in „minimalist versions“ flüchten, die nicht den buntesten Video- Tortenguß mit der dicksten Musik-Vanillesoße übergießen, um uns vergessen zu machen, dass darunter leider gar keine Nahrung für Augen, Geist und Herz steckt.

Ich wünsche Fritzi Haberlandt Komplizen am Regiepult, die ihr an Neugier auf Realität und an Öffnung für Poesie einigermaßen gewachsen sind. Ihre „vis comica“ und „vis tragica“ – „vis“ heißt ja „Kraft“, und davon hat sie nicht wenig – wirken heute schon exzeptionell. Morgen könnten sie aus ihr eine ganz und gar unverwechselbare, im Glücksfall eine große Schauspielerin machen.

Ivan Nagel war Theaterintendant und lebt als Essayist in Berlin. – Der Kerr-Preis, mit 5000 Euro dotiert, wird jedes Jahr an eine junge Schauspielerin oder einen Schauspieler vergeben, die/der im Theatertreffen aufgetreten ist.

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