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Ratten (DT)

© Deutsches Theater

''Die Ratten'': In der Holzpresse

"Die Ratten“ heißt Gerhart Hauptmanns Stück über eine kinderlose Proletarierin, die einem schwangeren Kindermädchen ihr Kind abkauft. Michael Thalheimers hat das Stück am Deutschen Theater großartig zur Kenntlichkeit entstellt.

Am Ende, als die Akteure vom Jubel des Publikums immer wieder in die Holzpresse gelockt werden, die an diesem Abend die Bühne bildet, sieht man den Schauspieler Horst Lebinsky am Rand stehen, die bedrohlich niedrige Decke beäugend und mit der Hand an ihr rüttelnd, als wolle er noch immer nicht glauben, dass dieses von Olaf Altmann entworfene Foltergerät auch hält – dass es nicht einfach heruntersaust und ihn hinterrücks doch noch zerquetscht.

„Die Ratten“ heißt Gerhart Hauptmanns Stück von 1911, in dem die kreuzunglückliche und kinderlose proletarische Frau John dem schwangeren Kindermädchen Pauline ihr Kind abkauft und für die daraus entstehenden Komplikationen mit dem Tod bezahlt. In der Inszenierung von Michael Thalheimer im Deutschen Theater könnte es genauso gut „die Wanzen“ heißen – „Wanzenburg“ nannte der Volksmund die Mietskaserne Alexander-/Ecke Voltairestraße, in der das Stück spielt.

Wer Menschen „Ratten“ nennt, ist durch den Abscheu, der in der Bezeichnung mitschwingt, indirekt noch immer mit so etwas wie Humanismus verbunden. Das passt zum sozialdemokratischen Geist Hauptmanns. Für wen Menschen dagegen „Wanzen“ sind, der hat das Projekt Mensch mit diabolischem Lächeln ad acta gelegt. Was, auf den ersten Blick zumindest, zum Regisseur Thalheimer passt, den ungerührten Analytiker, der sich mit dem kalten Auge eines Chirurgen über Stücke beugt, um alles Überflüssige wegzuschneiden. Hat man Pech, stehen alle Beteiligten nach dem Gemetzel blutverschmiert da und das Stück ist mausetot. Gelingt die Operation jedoch, kann Thalheimer stoisch das Herz eines Dramas präsentieren. Denn natürlich ist Thalheimers Kälte eine instrumentelle Gefühllosigkeit, hinter der sich zwar keine Hoffnung, aber doch so etwas wie Mitgefühl auftut.

„Die Ratten“ von Hauptmann sind ein solcher Glücksfall, und das Gelingen dieses beklemmenden Abends gehört, neben dem brillierenden Ensemble, zum großen Teil dem Bühnenbildner Olaf Altmann. Seine beiden monumentalen Holzflächen bilden einen Bühnenschlitz von geschätzter Einmeterfünfzig-Höhe, so dass die Schauspieler sich ausschließlich gebückt, mit abgeknicktem Kopf oder angewinkelten Beinen, also nur mit Qualen bewegen können und sich mit Betreten des Raumes automatisch in verrenkte, expressionistisch anmutende Elendsskulpturen verwandeln.

Die Bühne ist aber nicht nur von genialer Einfachheit, sondern produziert auch einen fürchterlichen Ton. Hinter den minimalistischen Klavierakkorden von Bert Wrede und den schnell gesprochenen, sicher um die Hälfte reduzierten Hauptmann-Sätzen im derbsten Berlinerisch mit schlesischen Einsprengseln hört man die ganzen neunzig Minuten hindurch ein metaphysisches Knirschen. Was wäre, wenn die Decke doch herunterkrachte und die Schauspieler wie Insekten zermalmte?

Zu den zum Scheitern verurteilten Versuchen Frau Johns, die Constanze Becker daueraggressiv und mit panisch aufgerissenen Augen gibt, passt dieser quälende akustische Hintergrund nur zu gut. Anfangs bedrängt die John Pauline (Regine Zimmermann), ihr das noch im Bauch befindliche Kind zu überlassen – und drückt sich gleichzeitig fast hilfesuchend an sie: Denn die beiden sind durch ein spiegelverkehrtes Elend miteinander verbunden. Die John will mit dem erschwindelten Baby ihren abwesenden Maurerehemann aus Altona zurücklocken. Pauline will durch Abtreibung den verschwundenen Kindsvater bestrafen. Im zweiten Akt ist der Tausch vollzogen. Pauline kommt zurück, um der John zu sagen, dass sie nun doch beim Amt nur als Pflegemutter angegeben wurde. Das ist der Anfang vom Ende, denn auf den ersten Schwindel folgt ein zweiter – bis zum Mord.

Dass Mütter sich bekämpfen, weil sie, wegen der Männer, der Sitten, der Zustände, keine Mütter sein können: das ist der dramatische Kern des Stücks, den Thalheimer umso stärker herausstreicht, indem er die Frauen als durch Ohnmacht unterschwellig miteinander verbunden zeigt. Als Dritte in diesem Bunde hat Kathrin Klein als Witwe Sidonie Knobbe einen bewegenden Auftritt, Morphinistin und Mutter des kranken Babys, das am Ende stirbt. Eingehüllt in Pelz und Schminke hält sie, zitternd wie ein Windhund, den Monolog des Abends: „Denken Sie nicht, mein besseres Fühlen ist in dem Sumpfe total erstickt, in den ich mich stürzen muss. Ich brauche den Sumpf, wo ich gleich und gleich mit dem Abschaum der Menschheit bin.“ Trotz Verkommenheit und roher Sprache. Die Haut ist dünn wie die von Kindern.

Nur Harro Hassenreuter, also Horst Lebinsky, kennt da nichts. Als ehemaliger Theaterleiter tobt er wunderbar schmerzfrei und lautstark mit Schiller-Zitaten um sich knallend wie ein Zirkusdirektor über den Dachboden, wo er seinen Theaterfundus untergebracht hat und seinem verhassten Schwiegersohn in spe Erich Spitta (Mathis Reinhardt) aufs herrlich Arroganteste Unterricht im Deklamieren gibt. Hauptmann hat den komödiantischen Strang eingefügt, um die Tragödie einer einfachen Frau angesichts dieser bornierten Bürgerlichkeit noch tragischer erscheinen zu lassen. Die John geht vor seinen Augen zugrunde und Hassenreuter erklärt ein Milchkochgerät und hat hinter seinem charmierenden Grinsegesicht sowieso nur Gedanken für die fesche Alice Rütterbusch (Isabel Schosnig).

Hassenreuter und die John, das sind Hauptmanns Hauptfiguren, und Thalheimers eigentlicher Clou besteht darin, aus der Achse ein Dreieck gemacht zu haben. Thalheimer rückt den Mann der John, den Maurer aus Altona, zur dritten Hauptfigur nach vorn und gibt neben der Verzweiflung der Frauen und dem larmoyanten Witz Hassenreuters noch der Trauer Raum – und dem Abend eine schmerzhafte Tiefe.

Jahre vor der Handlung hat das Ehepaar nämlich ein Kind verloren, das „Albertchen“, nur wenige Tage nach der Geburt. Diesen Verlust hat Herr John nie verwunden. So wie Hassenreuter mit Blindheit geschlagen ist, so sieht John, wohin er schaut, nur das Gespenst seines Söhnchens. Sven Lehmann gibt diesen Mann, kettenrauchend, mit trauriger Gefasstheit, als lebenden Toten, der nur aus der Haut fährt, wenn man ihm seine Anständigkeit nehmen will, das Einzige, was er hat. Wenn man ihn da so sitzen sieht, in seinen Wolken der Erinnerung, merkt man: Das Was-wäre-wenn-Knirschen im Ohr kommt nicht aus der Zukunft, sondern aus der Vergangenheit. Die Decke hat sich längst gesenkt.

Wieder am 10.10., 25.10. und 27.10.

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