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Alltag am Alex. Tiger verbringt dort viel Zeit mit seinen Kumpels.

© Göran Gnaudschun

Die Rumhänger vom Alexanderplatz: Am Rand und mittendrin

Göran Gnaudschun fotografierte vier Jahre lang einmal pro Woche auf dem Alexanderplatz. Jetzt zeigt das Haus am Lützowplatz seine Bilder.

Von Oliver Bilger

Das Treffen findet weit entfernt vom Alexanderplatz statt, weit weg von seinen Bildern. Potsdam. Die Straßenbahn ruckelt zum Stadtrand, unsanierter Altbau, Fischgrätenparkett, ein Balkon wie ein Schiffsbug. „Ich mag Berlin, aber ich muss da nicht wohnen“, sagt Göran Gnaudschun. Kapuzenpulli grau, Hemd grau, derbe Schuhe. In der Hand Kuchen vom Bäcker. Potsdamer Schnauze, Jahrgang 1971.

In der Galerie am Lützowplatz hängen seit ein paar Tagen seine Fotografien von Menschen, die den Alex bevölkern. Rumtreiber, Ausreißer, Schnorrer, Obdachlose. Sie heißen Mel, Howie und Spider. Manche von ihnen sind jeden Tag da, andere nur ab und zu. Auf ein Bier, Zigaretten und ein bisschen Nähe. Alle bewegen sich am Rand der Gesellschaft, einige sind schon runtergefallen, andere halten sich gerade noch so. Die meisten haben Erfahrungen mit Gewalt, Alkohol, Drogen. Gnaudschun hat sie begleitet, mit ihnen Bier getrunken, sie fotografiert und zugehört.

Zwischen 2010 und 2014 ist er auf dem Alexanderplatz unterwegs gewesen, immer einmal die Woche, manchmal bis spät in die Nacht hinein. Irgendwann ist er immer zurück nach Potsdam gefahren. Zur schlafenden Familie in die saubere Wohnung. „Platte gemacht hab ich nie. Diese Grenze wollte ich nicht übertreten.“

Wie haben die Menschen am Alex ihn akzeptiert? Das war ganz einfach und steht in seinem Buch zur Ausstellung: „Alle mal herhören! Das ist ... Wie heißt du gleich?“ „Göran“ „Also das ist Göran, der war Gitarrist bei 44 Leningrad, wenn ihr wisst, was das heißt. Der ist in Ordnung und der wird hier ein paar Fotos machen.“ 44 Leningrad singen russische Kampf-, Volks- und Arbeiterlieder mit Punk-Akkorden. Bei denen hat Gnaudschun Gitarre gespielt. Und so ein bisschen gerufen auch, wie er sagt. Die Band stammt noch aus der Zeit, in der es über 120 besetzte Häuser in Potsdam gab. Die ersten Arbeiten von Gnaudschun, der bei Timm Rautert in Leipzig studiert hat, sind dort entstanden.

„Als Künstler kann ich andere Wege gehen als die Journalisten. Es ist ein Langzeitprojekt, in das man sich auch reinfallen lassen muss. Engere Bindungen eingehen, dabei sein, ohne immer an ein Ergebnis zu denken, den Abstand verringern und manchmal auch mehr trinken, als es einem guttut, das geht nicht anders.“

Der jüngste Sohn von Gnaudschun kommt in die Küche gelaufen und hält ein Foto von sich und seinen zwei Brüdern in die Luft. „Ich bin Familienvater. Das war oft hart. Diese zwei Welten – hier die Familie, da der Alex – lassen sich nur schwer vereinbaren. Und Geld muss auch irgendwie reinkommen.“

Die Bilder sind stille Porträts, voll Ruhe und Ernsthaftigkeit

Göran Gnaudschuns Bilder vom Alex sind stille Porträts, voller Ruhe und Ernsthaftigkeit. Vertrauen spricht aus ihnen, ein spezieller Moment ist entstanden, der nur dem Porträtierten und seinem Fotografen gehört. Da war wenig Distanz, das merkt man gleich.

Gnaudschun fotografierte ein Mädchen namens Mel. Sie hat lila, pinke, blaue und grüne Haare und eine verletzte Hand. „Das Bild von Mel fasziniert mich besonders. Sie hat diesen Verband an der Hand, den man deutlich sieht. Und trotzdem steht sie sehr aufrecht und blickt stolz in die Kamera.“ Die Gegensätze machen ein Bild erst besonders, sagt er. Die Ambivalenz, das Rätsel, das sich nicht entschlüsseln lässt. Irgendetwas passiert, wenn er auf den Auslöser drückt. Er weiß nicht genau, was es ist und will es auch nicht so genau wissen. „Als ich dieses Bild von Mel hatte, wusste ich, ich will weitermachen mit dem Projekt.“

Im Schatten des Fernsehturms. Verspielte Hunde gehören dazu.
Im Schatten des Fernsehturms. Verspielte Hunde gehören dazu.

© Göran Gnaudschun

Und gleichzeitig: „Natürlich sind das nur Abbilder der Wirklichkeit.“ Gnaudschun hat seine Modelle künstlerisch überhöht, er weiß um den Filter, den seine Kamera über die Szene legt. Unbewusst, wie er sagt, wende er bestimmte Formeln der Bildkomposition an, um das Würdevolle der Fotografierten zu betonen. „Ich inszeniere das nicht absichtlich aber ich habe mich so viel mit Kunst beschäftigt, dass die Bilder halt im Kopf sind und man drauf zurückgreift.“ Ein hagerer Mann in Unterhose gerät vor Gnaudschuns Kamera zu einem modernen Christus. Punks mit buntem Iro und jungenhaften Pickeln fotografiert er in der Haltung von Fürsten aus der Renaissance. Gerne kontrastiert er seine Porträts mit Landschaftsaufnahmen, die ebenfalls auf dem Alex entstanden sind. Er mag David Lynch und die Ästhetik der Romantik.

Wenn Göran Gnaudschun von seiner Arbeit erzählt, gestikuliert er viel, dabei zwinkern die Augen. Er hat den Alexanderplatz lieben gelernt über die Tage und Wochen, die er dort verbracht hat. Dabei sagen die Leute immer, der Alex sei zugig, hätte keine Atmosphäre und schreckliche Ost-Architektur. „Hier treffen so viele Welten aufeinander. Die Touris, die Schnorrer, Mütter mit Kindern.“ Trotzdem: Er ist froh, dass die Bilder in einiger Distanz zum Entstehungsort hängen. Im Westen, in Tiergarten. Sie bräuchten diesen Abstand, um zu wirken, da ist sich Gnaudschun sicher.

Er hat nicht nur fotografiert, sondern auch unzählige Interviews geführt und Tagebuch geschrieben. Seine Porträts sind gemeinsam mit Schnappschüssen, Interviews und Tagebucheinträgen unter dem Titel „Alexanderplatz“ (Fotohof edition Salzburg, 218 Seiten, 30 €) gerade als Buch erschienen. Anders als seine Bilder spricht aus den Interviews oft unverhohlene Verzweiflung. Es sind traurige Geschichten von verbauten Existenzen, von Elend, Gewalt und Trauma. Er habe gewusst, dass er nicht helfen könne, sagt Gnaudschun. Die Leute am Alex auch. Schließlich ist er kein Sozialarbeiter und auch keiner von ihnen.

Vielleicht haben sie Gnaudschun gerade deshalb ihre Geschichten anvertraut. Er war ihr Chronist. Begleitete ihre Schlägereien genauso wie die zärtlichen Momente oder die Grillabende auf den Spreewiesen. Ganz ohne anbiedernde Sozialromantik. Gnaudschun sagt, der Alex und seine Bewohner wirkten wie ein Sog auf ihn. Es sei schwer, sich loszureißen. Für seine Bilder gilt dasselbe.

Haus am Lützowplatz, bis 30. März, Di–So, 11–18 Uhr. Künstlergespräch und Buchvorstellung: 20. 3., 18.30 Uhr

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