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Kultur: Die Schaumstoff-Revolte

Jazzfest-Jubiläum: Alexander von Schlippenbach hat den Free Jazz miterfunden – vor vierzig Jahren

„Eigentlich wollten sie uns nicht spielen lassen“, sagt Alexander von Schlippenbach über die Verantwortlichen des diesjährigen Jazzfests. „Sie wollen keine alten, hässlichen Männer und sie wollen keinen Free Jazz.“Tatsächlich scheint es dieser Tage der radikalste Zweig des Jazz schwer zu haben. Erst kürzlich ließ den 68-jährigen Musiker und Grenzgänger Schlippenbach ein Radiointendant wissen, man sei an Free-Jazz-Aufnahmen grundsätzlich nicht interessiert.

Grundsätzlich nicht – der Mann muss verrückt sein, ein ganzes Free-Jazz-Orchester zu unterhalten und es anlässlich seines 40-jährigen Bestehens in einem Baden-Badener Studio zusammenzurufen. Das Globe Unity Orchestra will ein neues Doppelalbum aufnehmen und für seinen heutigen Auftritt beim Jazzfest proben, wohin es dann doch eingeladen worden ist. Immerhin hat die Band 1966 am selben Ort ihren Durchbruch erlebt.

Nach und nach treffen die 12 Bläser und zwei Schlagzeuger im Studio 1 des Südwestrundfunks ein, stundenlange Flüge und Bahnreisen hinter sich. Sie sitzen auf roten Stühlen halbkreisförmig vor der Bühne, auf der das Klavier steht. An dem sitzt Schlippenbach selbst, ein eleganter Mann mit einem seltsamen Cordhosen- Hosenträger-Pullunder-Stil, den er aber auf eine sehr hippe Art trägt, und gibt Handzeichen. Aus einem Lederrucksack holt er Gegenstände wie etwa eine Speiseglocke, mit denen er den schwarzen Flügel präpariert. Das 15-köpfige Ensemble probt „Single Notes“, einzelne wie auf die Streckbank gespannte Töne, die einen physischen Raum schaffen, laut Schlippenbach eine Erfindung von Globe Unity. Dann blubbern Atemgeräusche, tasten und türmen sich Klanggebirge in die Weiträumigkeit. Eine Melodielinie aus Ernst-Ludwig Petrowskys Querflöte schwebt für einen Moment über den tosenden Wellen und bettet sich dann ein, verliert sich und wird abgelöst durch ein Aufschwingen der Posaune.

Die bunten Kabel der Mikrofone schlängeln sich wie Schnüre über den Parkettboden des Studios und scheinen die sonst verstreuten Mitglieder dieses All-Star-Ensembles auch bildlich miteinander zu vernetzen: die „Generäle“, wie Schlippenbach die Ältesten nennt, sich selbst eingeschlossen, die „Commander“, wie etwa den grandiosen Posaunisten George Lewis aus Chicago, der jetzt als experimenteller Musiker, Professor und Musikforscher in New York lehrt. Die Jüngsten haben noch keinen Titel. Sie sind noch „die Küken“, obwohl Bassklarinettist Rudi Mahall und Trompeter Axel Dörner mittlerweile ebenfalls vierzig sind, so alt, wie das Orchester selbst. Der aktuellste Neuzugang ist der Posaunist Jeb Bishop aus Chicago, der nervös versucht, alles richtig zu machen. Schließlich sitzt er hier mit seinen großen Helden. Neben Lewis ist da noch der englische Posaunist Paul Rutherford und so profilierte Protagonisten des europäischen Free Jazz wie der Engländer Evan Parker.

Freiheit ist nicht immer auf dieselbe Weise frei. Auch die Musik des Globe Unity hat sich entwickelt. Aus dem „Kaputtspiel-Jazz“ (Schlippenbach) der sechziger Jahre und den sich anschließenden Manifesten über die Frage, was Free Jazz ist und vor allem nicht sein darf, sowie aus den verschiedenen Phasen des Orchesters, das stets ein Spiegel der Gesamtentwicklung der freien Musik in Europa war, hat sich eine Art Essenz herausgebildet. Eine Collage aus kompositorischen Schnipseln, die Schlippenbach als „organisierte Improvisation“ beschreibt. Aus vorab skizzierten Themen lösen sich einzelne Solisten, gefolgt von „Tutti-Improvisationen“, dem gemeinsamen Mit- und Gegeneinander von Tönen und Geräuschfetzen. Schönes und Wildes, Kompliziertes und Sanftes liegen dicht beieinander. In den Melodien selbst blitzt die Geschichte des Orchesters auf wie in jener kurzen Sequenz aus der von Joachim-Ernst Berendt und dem RIAS in Auftrag gegebenen Gründungskomposition „Globe Unity“, die in Berlin uraufgeführt wurde und – durch die Bedeutung der philharmonischen Bühne – im Grunde die erste und nachhaltige Konfrontation eines größeren Publikums mit Free Jazz im Orchesterformat darstellte.

Doch in den neunziger Jahren, dem Jahrzehnt der elektronischen Experimente, wurde es still um Schlippenbachs Orchester, so wie es überhaupt still wurde um den Free Jazz. Einerseits grenzenlos offen, hat er sich andererseits ein kompliziertes Bezugssystem geschaffen, dessen harmonische Raffinesse von Außenstehenden schwer zu durchschauen ist. Hinzu kam, dass der Wegfall der Mauer und der Berlin-Subventionen auch die Musiker um Schlippenbach traf. Ohne Förderung konnten sie nicht überleben, Schlippenbach konzentrierte sich auf kleinere Gruppen, seine Professur und interpretierte die Musik von Thelonious Monk.

Erst durch das Interesse einiger junger US-Musiker erfährt der europäische Free Jazz neuerdings ein kleines Revival. Was diese Generation fasziniert, ist die Radikalität, mit der unangepasste und kompromisslose Klänge erschaffen werden und an einer Kunstform festgehalten wird, die keinerlei Sicherheiten bietet. Auch finanziell balancieren die gefeierten Stars zum Teil am Abgrund. Aber sie nehmen lieber Jobs an, die mit Musik nichts zu tun haben, als dass sie ihre Kunst kompromittierten. Und Label-Chef Patrik Landolt, bei dem Globe Unity veröffentlicht, lobt den Free Jazz als die Klassik der Moderne.

So weit würde Alexander von Schlippenbach nicht gehen. Im ersten Stock seiner Moabiter Altbauwohnung beschreibt er sein Schaffen als einen sich ständig erneuernden Prozess. Neben dem Arbeitszimmer, in dem er seine Musik schreibt, zwischen einem Klavier und Bänden von Nietzsche und Schönberg, befindet sich auch der Probenraum, „unsere Gummizelle“, wie Schlippenbach sagt. Ein kleines Zimmer, mit Schaumstoff ausgekleidet, darin ein Flügel. Hier proben er und seine Frau, die Pianistin Aki Takase, allein oder mit Band. „Zurzeit ist Berlin das kreative Zentrum der neuen, improvisierten Musik. Aber das wird nirgends abgebildet“, klagt er. Und noch immer stufe die GEMA, die Gesellschaft zur Wahrung der Urheberrechte, den Jazz in der untersten Kategorie als Unterhaltungsmusik ein. Weil Improvisation nicht als Notation erfasst werden kann. Musik, die es eigentlich nicht gibt. Imaginäre Konzerte.

Jazzfest: Globe Unity Orchestra, heute im Haus der Berliner Festspiele, 19.30 Uhr.

Maxi Sickert

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