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Kultur: Die Schleier der Macht

Holländer sind pragmatisch. Und so wollte sich die Designerin Cindy van den Bremen nicht damit abfinden, dass viele muslimische Mädchen in den Niederlanden keine Sportklassen besuchen, weil sie der Schleier behindert.

Holländer sind pragmatisch. Und so wollte sich die Designerin Cindy van den Bremen nicht damit abfinden, dass viele muslimische Mädchen in den Niederlanden keine Sportklassen besuchen, weil sie der Schleier behindert. Unter Mithilfe eines Imams machte sich van den Bremen daran, eine moderne, sportliche Form des Kopftuchs zu entwerfen. Ihre Kopfbedeckungen zum Tennisspielen, für Aerobic und Skaten erinnern eher an die Kapuzen von Eisschnelläufern als an traditionelle muslimische Schleier, denn, so van den Bremen: "Ich wollte etwas entwerfen, was für muslimische Zwecke geeignet ist, aber trotzdem keine eigene muslimische Botschaft enthält." Ein Kompromiss zwischen islamischer Tradition und westlicher Moderne.

Schleier und Kopftuch gelten im Westen als Symbol für die Unterdrückung der Frau im Islam, deren radikalste Form im Afghanistan der Taliban zu beobachten war. Hier durften Frauen in der Öffentlichkeit keinen Zentimeter ihres Körpers unverhüllt zeigen. Beruflicher Kontakt mit Männern war ihnen ganz verboten. Ähnlich streng geht es in Saudi-Arabien zu, dem zentralen islamischen Land und Hüter der heiligen Stätten Mekka und Medina. Aber auch in Iran, Sudan, Nigeria und Pakistan gibt es staatliche Kleidervorschriften für den weiblichen Teil der Bevölkerung. Ist der Islam demnach die frauenfeindlichste der drei monotheistischen Religionen?

Frauenfreund Mohammed

Zumindest der Religionsstifter Mohammed war kein Feind, sondern ein ausgesprochener Freund der Frauen, die er aus den Fesseln der damaligen arabischen Stammesgesellschaft befreite. Viele Koran-Suren sprechen von der Gleichheit der Geschlechter. Regelungen wie die, dass die Frau zumindest die Hälfte dessen erben sollte, was einem männlichen Erben zustand, dass sie vor Gericht als Zeuge auftreten durfte und als rechstfähig galt, waren in der spätantiken arabischen Stammeswelt unerhört. Denn vor den Reformen Mohammeds im 7. Jahrhundert galt die Frau auf der arabischen Halbinsel nur als ein Ding, das vom Vater an den Ehemann verkauft wurde. Auch von einem metaphysischen Standpunkt her ist die Frau dem Mann im Koran gleichgestellt. So fehlt etwa die christliche Vorstellung von der weiblichen Ursünde - Adam und Eva tragen gleichermaßen Schuld an der Vertreibung aus dem Paradies.

Mohammed war in manchen Dingen ein nach unseren Maßstäben moderner Mann - und seine erste Gattin Khadija eine starke Frau. Die Kaufmannswitwe war älter als Mohammed und managte eine internationale Handelsgesellschaft - und wurde zur ersten Anhängerin des Propheten, die ihn in seiner Mission bestärkte. Nicht ohne Grund fand Mohammeds Botschaft von der Gleichheit der Menschen besonders bei den Entrechteten der damaligen Stammesgesellschaft große Resonanz: bei den Frauen, den Sklaven und den Waisen. Doch obwohl der Prophet in vielen Suren die Gleichwertigkeit der Geschlechter propagierte, machte er auch einige Zugeständnisse an die arabische Männerwelt. Die wenigen Beispiele für eine minderwertige Rolle der Frau im Koran dienten späteren Interpreten dann als Legitimation für die Vormachtstellung des Mannes.

"Es ist schwer zu begreifen, warum jene sechs Verse im Koran die restlichen 6660 an Gewicht überwiegen", schreibt die pakistanische Wissenschaftlerin Shaheen Sardar Ali. Vor allem die Rechtsgelehrten der ersten Jahrhunderte nach Mohammeds Tod haben diese Verfälschung zu verantworten. Denn wer die Interpretationshoheit über die Religion hat, richtet sich die Welt zum eigenen Nutzen ein. Ein Beispiel: In Vers 2, 282 heißt es, dass bei Schuldprozessen entweder mindestens zwei Männer oder mindestens ein Mann und zwei Frauen den Tatbestand bezeugen müssen. Der Grund: Frauen wurde in wirtschaftlichen Fragen weniger Sachverstand zugetraut, weil sie meistens nicht geschäftlich tätig waren. Die Rechtsgelehrten leiteten daraus ab, die Frau sei als Zeuge generell nur die Hälfte eines Mannes wert. Geflissentlich ignorierten sie dabei Vers 24, 6-9, in dem Mohammed verfügt hatte, dass für den Fall, dass ein Mann seiner Frau Ehebruch vorwirft, die Aussage der Frau die des Mannes überwiegt - wenn keine weiteren Zeugen zur Verfügung stehen.

Nicht der Koran an sich ist also frauenfeindlich. Vielmehr führte die über Jahrhunderte andauernde Dominanz der Männer bei der Rechtsauslegung zu einer sich stetig verschlechternden Stellung der Frau. Was heutige Frauenrechtlerinnen besonders aufbringt, ist der Vergleich mit den religiösen Regeln zur Sklaverei. Die war zu Mohammeds Zeiten gang und gäbe und unterlag keiner moralischen Missbilligung. Der Prophet bezeichnete es lediglich als gottgefällige Tat, muslimische Sklaven freizulassen. Verboten hat er die Sklaverei jedoch nicht. Dennoch haben sich die Rechtsgelehrten später darauf geeinigt, die Sklaverei als unislamisch zu brandmarken. Warum sollte dies bei der Benachteiligung der Frau nicht auch möglich sein? Denn wie für andere Religionen gilt auch für den Islam: Wo ein gesellschaftlicher Wille vorhanden ist, dahin führt auch ein interpretatorischer Weg. Die mittelalterlichen Interpreten etwa entwickelten ausgefeilte Anlageformen, um das Zinsverbot zu umgehen. Und so gibt es in Saudi-Arabien heute nur deshalb Banken, weil ein Kredit nicht als Kredit gilt, sondern zur Geschäftsbeteiligung uminterpretiert wurde. Daran gemessen wäre die Gleichberechtigung der Frau viel einfacher zu begründen.

Die religiösen Schriften des Islam sind nicht nur äußerst umfangreich durch die ungeheuere Anzahl von "Hadithen", teilweise gefälschte Überlieferungen von Aussagen und Handlungen des Propheten, sie bieten sich in ihrer Widersprüchlichkeit auch als ein Steinbruch der Tradition an: Jeder holt sich das heraus, was ihm gerade passt.

Bis heute spielen aber lokale Traditionen eine ebenso große Rolle wie Koran und Hadithen. Ein Strukturmerkmal der muslimischen Welt: Weil eine zentrale religiöse Autorität fehlt, ist für die Gläubigen die Meinung der jeweiligen lokalen Geistlichen maßgeblich. Die halten etwa im nubisch geprägten Süden Ägyptens die Frauenbeschneidung für ein Gebot des Islam, während Rechtsgelehrte der angesehenen Al-Ashar-Universität in Kairo diese mit ebenfalls islamischen Argumenten ablehnen. Der Islam ist kein unveränderbares Gebilde - wie in jeder anderen Religion verändern sich die Interpretationen dessen, was als muslimisch gilt. In der Blütezeit des Islam, etwa im 13. Jahrhundert, wusste man in der ganzen muslimischen Welt von 40 Imama zu berichten, die den Koran lehrten. Frauen wurden als Schriftstellerinnen verehrt, wie die spanisch-muslimische Dichterin Wallada, die auch wegen ihres ausschweifenden Liebeslebens bekannt wurde, oder Rabia Al-Adawiyya aus Bagdad, die als eine der Begründerinnen der Liebesmystik gilt. Der Niedergang der muslimischen Welt, der etwa im 14. Jahrhundert einsetzte und bis heute andauert, verhärtete jedoch die Interpretationen von der Minderwertigkeit der Frau. Immer mehr beschränkte sich ihre Rolle auf die Familie - bis heute.

Der wichtigste Grund, warum eine muslimische Frau möglichst im Haus bleiben und nur verschleiert in die Öffentlichkeit gehen sollte, ist die Angst der Männer vor ihrer Sexualität. Der Islam verdammt Sex nicht. Im Rahmen der Ehe ausgeübt, gilt er als gesund und friedensstiftend. Aber ein zu viel an Sinnlichkeit betrachtet der Islam als gefährlich. Dem Mann, dem ein Mehr an sexueller Energie zugesprochen wird, ist es deshalb erlaubt, bis zu vier Frauen zu haben. Und das ist auch der Grund, warum Frauen ihre Körperteile in der Öffentlichkeit bedecken sollen: um mit ihrer Anziehungskraft Männer nicht zu verwirren.

Gefährliche Sinnlichkeit

Diese eher "pragmatischen" Ansichten zum Geschlechtstrieb werden aber überlagert von dem, was die Ulama, die Rechtsgelehrten, als die dunklen, zerstörerischen Potenziale der Frau ansehen, die "fitna" ist: Versuchung und Anziehungskraft zugleich. Fitna ist ein durch die muslimische Geschichte stark aufgeladener Begriff. Er bezeichnet die Rebellion einzelner Stämme gegen die muslimische Gemeinschaft nach dem Tod Mohammeds - eine Art Bürgerkrieg auf der arabischen Halbinsel. Übertragen auf die Frau heißt das: Ihre Sinnlichkeit birgt große soziale Sprengkraft. Daher waren sich die mittelalterlichen Rechtsgelehrten einig, dass die zerstörerische Kraft der Frau in ihre Schranken gewiesen, vom Mann kontrolliert werden müsse.

Durch diesen Wunsch nach Kontrolle der "gefährlichen" weiblichen Sexualität ist der normale Aktionsradius der Frau auf die häusliche Sphäre beschränkt, bemisst sich ihr Wert vor allem daran, ob sie ihrem Mann Kinder, sprich: einen Sohn, schenken kann. Dann erhält sie den Ehrennamen "Um", Mutter, gefolgt vom Namen des Erstgeborenen. Daran hat sich seit knapp 1400 Jahren wenig verändert, berichtete doch schon Mohammed im Koran von seinen männlichen Zeitgenossen: "Wenn einer von ihnen von der Geburt eines Mädchens benachrichtigt wird, bleibt sein Gesicht finster, und er unterdrückt seinen Groll." Das aber missbilligte der Prophet: "Übel ist, wie sie da urteilen." Seine Worte blieben ohne Wirkung: Nach wie vor werden viele Ehen in muslimischen Gesellschaften geschieden, weil männlicher Nachwuchs ausbleibt.

Die Depressionen und Deformationen, die die Beschränkung der Frau auf ihre Rolle als Mutter und Gebärerin hervorbringen, hat die inzwischen verstorbene ägyptische Frauenrechtlerin und Schriftstellerin Alifa Rifaat in ihren Romanen und Kurzgeschichten beschrieben. Sie zeigt, dass aber auch Frauen nicht ganz unschuldig sind an der Fortführung eingefahrener Muster: Söhne werden oft genug so mit Liebe überhäuft und eifersüchtig bewacht - noch nach ihrer Eheschließung - dass diese eine reife Beziehung zur eigenen Gattin schwer entwickeln können. Töchter hingegen werden nicht selten aus einer Mischung aus Frust und Neid in dieselbe Rolle gedrängt, unter der die Mutter selbst zu leiden hat. Ein Teufelskreis.

Aber auch in die muslimische Welt kommt Bewegung. Beeinflusst von der westlichen Emanzipationsbewegung wird seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch hier die Frauenfrage lebhaft diskutiert. Zur Jahrhundertwende erschienen mehrere Bücher von muslimischen Intellektuellen, die einen Zusammenhang sahen zwischen der untergeordneten Stellung der Frau und der Unterentwicklung in ihren Ländern. Diese Ansätze setzten sich nur zaghaft durch. Dass nach ersten Erfolgen in Sachen Frauenbildung, nach dem Verschwinden des Schleiers zumindest in den Städten seit den 70er Jahren eine Reislamisierung der Öffentlichkeit muslimischer Länder zu beobachten ist - das sehen Kritiker als den Beweis für die Reformunfähigkeit des Islam an. Doch die Realitäten im Nahen Osten sind komplizierter: Von der Frauenfrage zu reden, ohne diese in den Entkolonialisierungsprozess der muslimischen Welt einzubetten, macht wenig Sinn. Noch im 19. Jahrhundert galt die westliche Kultur im Orient als Vorbild, als Fortschrittsmuster, das es in abgewandelter Form zu imitieren galt. Je agressiver jedoch die europäischen Mächte den Nahen Osten kolonialisierten, desto größer wurde das muslimische Bedürfnis nach Abgrenzung von der westlichen Kultur.

Männer, die es gewohnt waren, allein den Platz in der Öffentlichkeit auszufüllen, die aus ihrer außerhäuslichen, gesellschaftlichen Rolle ihr Selbstwertgefühl schöpften, sahen sich von zwei Seiten in die Defensive gedrängt: Die Europäer setzten ihren politischen und kulturellen Führungsanspruch im Nahen Osten durch und ließen die Muslime ihre Verachtung deutlich spüren. Auf der anderen Seite begannen muslimische Frauen in den Städten das Terrain außerhalb des Hauses zu erobern und ihren Platz in der Gesellschaft zu beanspruchen. Aus dieser Situation der politisch-kulturellen Bedrängung der Männer enstand der Islamismus, der politische Islam, am Ende der 1920er Jahre. Der Fundamentalismus versprach eine Wiederanbindung an die Werte und Wurzeln des frühen Islam - und wurde zum Vehikel einer doppelten männlichen Abwehrschlacht: gegen die kulturelle und politische Hegemonie des Westens und gegen die Selbstermächtigung der eigenen Frauen.

Kulturell bestimmend wurde der Islamismus jedoch erst seit den 70er Jahren: Das panarabisch-nationalistische Paradigma, verkörpert von Nasser in Ägypten, hatte sich genauso erschöpft wie die pseudo-sozialistischen Regime in Irak und Syrien. Der verlorene Sechstagekrieg gegen Israel stürzte die arabische Welt in eine Sinnkrise. Da die Diktatoren des Nahen Ostens linksgerichtete Macht- und Gesellschaftskritik brutal unterdrückten, blieb der politische Islam als einzige oppositionelle Bewegung übrig. Das karitative, soziale Engagement etwa der Muslimbrüder in Ägypten, der ersten islamistischen Organisation, tat ein Übriges, um die Reislamisierung der arabischen Welt der 70er Jahre zu beschleunigen.

Das Modell vom durch und durch islamischen Staat hatte nach der iranischen Revolution von 1979 Hochkonjunktur. Zentrales Element der fundamentalistischen Weltsicht ist und bleibt die untergeordnete Rolle der Frau. Der Schleier kehrte zurück - und wurde zum zentralen Symbol einer eigenen, vermeintlich authentischen Kultur, die es gegen den Westen zu verteidigen gilt.

Als Zerrbild der Fundamentalisten dient die als unmoralisch und stets sexuell verfügbar gedachte westliche Frau. Der Westen erscheint als Sodom und Gomorrha, gegen den der muslimische Mann die eigene Gesellschaft verteidigen muss. Wie bigott dieser Vorwurf ist, zeigt ein Blick auf fundamentalistische Mädchenschulen. Hier wird jungen Frauen beigebracht, sich in der Öffentlichkeit keusch zu kleiden, andererseits wird ihnen nahe gelegt, sich für den Ehemann zu Hause wie eine Hure aufzutakeln - er soll schließlich seinen Spaß haben.

Doch der Schleier ist nicht nur das Symbol männlicher Dominanz. So besteht etwa die Anthropologin Fadwa El Guindi darauf, dass der Schleier auch Privatheit verkörpert. Die Privatsphäre, der Familienraum werde in der muslimischen Welt viel reservierter als in westlichen Gesellschaften behandelt. Der Schleier sei die sichtbare Metapher für diese Privatsphäre. Frauen, die sich in der Öffentlichkeit verschleiern, signalisieren demnach Zurückhaltung und Respekt, die aber im Gegenzug auch von der Umwelt eingefordert werde. Für viele, die sich auch im Westen für den Schleier entscheiden, ist er ein Bekenntnis zum eigenen Glauben, zur eigenen kulturellen Identität geworden.

Menschenwürde statt Menschenrechte

Über Jahrzehnte haben Frauenrechtlerinnen in der islamischen Welt westliche Menschenrechte gegen die muslimische Praxis ins Feld geführt - und sich so dem Vorwurf ausgesetzt, der eigenen Kultur entfremdet zu sein, den Westen bloß kopieren zu wollen. Dem Beharren von Seiten des Westens auf die Anwendung der Menschenrechte auf muslimische Frauen weiß sich das Patriarchat inzwischen zu erwehren: In der islamischen Welt ausgearbeite Grundrechtchartas umgehen den Begriff der Gleichwertigkeit und gleicher Rechte und ersetzen ihn durch den der "gleichen Würde" - bei unterschiedlicher Verteilung von Rechten und Pflichten zwischen den Geschlechtern. Begründet wird dies weiterhin mit der in der Natur angelegten unterschiedlichen Ausstattung von Mann und Frau, aus der sich unterschiedliche Aufgaben ableiten ließen.

Viele Musliminnen haben daher erkannt, dass es erfolgversprechender ist, statt gegen die eigene Religion zu kämpfen, die verschütteten Traditionen der Gleichheit im Islam wieder frei zu legen - einen Weg, den etwa die mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnete Algerierin Assia Djebar verfolgt.

So einfach wie noch vor einigen Jahren haben es muslimische Männer aber selbst mit Islamistinnen heute nicht mehr: Viele gläubige, auch fundamentalistische Frauen fordern zunehmend ihren eigenen Platz in der religiösen Tradition ein. Im Iran etwa waren 1996 schon 16 Prozent der Religionsstudenten Frauen. Heute haben auch Islamistinnen ein großes Bedürfnis nach Wissen über die eigene Religion. Und die Hoffnung, wieder zurückzufinden zu den Anfängen - zur emanzipatorischen Botschaft Mohammeds. Was für ein Kopf, was für ein Wille sich jeweils unter dem Schleier verbirgt - wer weiß das schon.

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