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Kultur: Die Schwaben-Offensive Wo spielt die Musik?

Sie konnten alles, sogar Hochdeutsch: Morgen eröffnen Stuttgarts HipHopper die Berliner Popkomm

Das Wunder ist aktenkundig. Im Frühsommer 1999 tummelten sich vier HipHop-Alben aus derselben Region in den deutschen Charts: „Überfall“, das Major- Debüt der Massiven Töne, „Esperanto“ das zweite Freundeskreis-Werk, Afrobs „Rolle mit HipHop“ und ganz oben auf Platz Eins „4:99“ von den Fantastischen Vier. Was war geschehen? Wie konnte Stuttgart, eine Stadt mit 600000 Einwohnern, zur HipHop-Metropole aufsteigen? Hatte der kommerzielle Durchbruch der Fantastischen Vier eine Hand voll weiterer Bands in die Top Ten gespült?

Sechs Jahre zuvor – ich war gerade erst Musikredakteur beim Stuttgarter „Prinz“-Magazin geworden und die Fantastischen Vier hatten im Herbst 1992 mit „Die Da!?!“ ihren ersten Hit gelandet – recherchierte ich an einer Geschichte über die regionale HipHop-Szene, von der kaum jemand etwas wusste. Dabei stieß ich auf eine Band namens Massive Töne, deren Sprecher Wasi mich zu meinem Erstaunen darauf hinwies, dass er keinesfalls in einem Artikel erwähnt werden wolle, in dem die Fantastischen Vier eine Rolle spielten. Ein wesentliches Element des Artikels war ein „Demotape-Check“ von „Fanta-4“-Mitglied Smudo, der sich Aufnahmen anderer Rapper anhören und kommentieren sollte. Ich war sehr erstaunt, dass eine junge Band die Chance ausschlug, von einem leibhaftigen Top-Ten-Star des eigenen Genres in einem auflagenstarken Stadtmagazin positiv erwähnt zu werden. Doch die Fantastischen Vier verkörperten den Typus des schwäbischen Middle- Class-Homeboy, damit wollten Wasi & Co nichts zu tun haben.

Da hatte sich die Kolchose bereits formiert, eine Interessengemeinschaft aus Stuttgarter Rappern, Produzenten, Graffiti-Künstlern und Breakdance-Gruppen, ihre Basis war das Jugendhaus West. Sie wollten Stuttgarts „wirklichen HipHop“ bekannt machen und dem Ausverkauf der geliebten Straßenkultur Einhalt gebieten. Der Schulterschluss folgte pragmatischen Erwägungen: Nur gemeinsam waren die Kolchose-Rapper und -DJs in der Lage, ein Musik-Repertoire zusammenzustellen, das größere Events rechtfertigte.

„Vielleicht ist uns Schwaben das Organisieren in die Wiege gelegt“, mutmaßt Johannes Graf von Strachwitz, Geschäftführer der Stuttgarter HipHop-Agentur 0711. Bereits in den frühen Neunzigern hatte der spätere Manager der Massiven Töne diverse Jams initiiert. Als der Hype um die Fantastischen Vier hysterische Züge annahm, wuchs auch das Bedürnis der in den Schatten gerückten, sich zu emanzipieren. Musiker wie Max Herre, Massive Töne, I-CE, Raw Diamenz und Die Krähen schufen eine unabhängige Infrastruktur, die sich zunächst auf die Produktion von Kassetten verlegte. „Friction war die wichtigste Figur in der Frühphase der Kolchose“, erinnert sich Ex- Krähen-DJ Thomilla, „er hatte als einziger einen Sampler und eine Bandmaschine.“

Das Homerecording-Equipment des späteren Freundeskreis-Mitglieds DJ Friction alias Martin Welzer stand im Wohnzimmer der elterlichen Wohnung. Die dort eingespielten Aufnahmen genügten zwar, um die Musik der Kolchose Freunden und Konzert-Veranstaltern zugänglich zu machen, eine richtige Platte, auf Vinyl, die in Plattenläden zu haben gewesen wäre, kam allerdings kaum in Frage. Zur ersten Produktion unter Profi-Bedingungen kam es durch drei erfahrene Musiker aus dem Umfeld der Soulfunk-Lokalgröße Mo.Man (Philippe Kayser, Peter Hoff und Tommy Wittinger), die früh Gefallen an den Aktivitäten der jungen HipHop-Aktivisten fanden. Sie ermöglichten ihnen zudem – noch vor den Fantastischen Vier –, bei Live-Konzerten auf konventionelle Instrumente zurückzugreifen. So entstand Agit- Jazz (Max Herre und Philippe Kayser), woraus später Freundeskreis entstand.

Als Meilenstein in der Stuttgarter HipHop-Historie gilt die Veröffentlichung von „Kopfnicker“ der Massiven Töne (1996), die erste Langspielplatte eines Kolchose- Acts. Bis dahin waren die Anfeindungen gegen die Fantastischen Vier immer expliziter geworden. Auf der Bühne wurden Cola-Dosen zerdrückt, auf denen die Konterfeis der ungeliebten Major-Konkurrenz als Sonderedition abgebildet waren. Den Wendepunkt brachte die Gründung des Labels Four Music der Fantastischen Vier. Als Talentscouts fungierten auch Smudo und Michi Beck.

Besonders letzteren trafen die Anfeindungen der Kolchose hart. Schließlich hatte ihn die Liebe zur HipHop-Kultur bereits in den Achtzigern zum DJ gemacht. Wann immer er in den einschlägigen Plattenläden der Stadt nach Neuem suchte, traf er auf die Kollegen der Kolchose, von denen einige dort als Verkäufer jobbten. Vereinzelte Remix-Aufträge der Fantastischen Vier hatten es einigen Kolchose-DJs schon seit Mitte der Neunziger ermöglicht, den Standard ihrer Studioausrüstung sukzessive zu verbessern. Damit hatten die Stars nicht nur Lokalpatriotismus bewiesen, sondern die Oldschool-Aktivisten auch als Businesspartner anerkannt. Als dann Max Herre auf der Fanta-4-Single „Raus“ mitwirkte, war der Damm gebrochen. Einige Monate später konnte Michi Beck in seiner Eigenschaft als A&R- Manager den Vertragsabschluss mit dem Freundeskreis verkünden – eine Verbindung, die in den folgenden Jahren zahlreiche Hitsingles und Hunderttausende verkaufte Alben hervorbringen sollte.

Heute sind mit Ausnahme von Massive Töne nahezu alle Kolchose-Künstler in der einen oder anderen Konstellation an das Label gebunden – das allerdings wie viele Stuttgarter HipHop-Protagonisten nach Berlin übergesiedelt ist. Geblieben ist Stuttgart vom HipHop-Boom eine „unglaublich hohe Clubdichte“ (Thomilla) und die Gewissheit, dass niemand am Niedergang schuld ist: „Es ist eingetreten, was wir schon immer gesagt haben. Auf Grund der geringen Größe der Stadt und der begrenzten Anzahl an Menschen war es überhaupt nicht möglich, die Dominanz zu erhalten, die wir vor fünf Jahren hatten“, resümiert Johannes Graf von Strachwitz. „Irgendwann mussten Hamburg und Berlin an uns vorbeiziehen.“

Nachtrag: Seit einer Woche dominiert Four Music wieder die Hitparade: Max Herre steht mit seinem Solo-Debüt auf Platz eins, Gentleman mit „Confidence“ knapp dahinter. Wenn heute die Fantastischen Vier ihr neues Album „Viel“ veröffentlichen (Four Music/Sony), dürfte das Erbe Stuttgarts noch einmal erstrahlen.

Der Autor, Jahrgang 1968, war 1996/ 1997 Mitarbeiter des Fantastischen Vier- Managements. Er lebt in Berlin und ist für Sony Music tätig.

Die Fantastischen Vier, Max Herre, Gentleman, Fünf Sterne Deluxe, Ferris MC spielen morgen, 20 Uhr, in der Deutschlandhalle.

FOLGE 6

Berlin wird „Pop-Hauptstadt“. Nach den Musikkonzernen zieht jetzt auch die Popkomm an die Spree. Aber wo entsteht gute Popmusik wirklich? Wir waren in Bad Salzuflen, Hannover, Weilheim, Düsseldorf und Lütjenburg und beenden hiermit unseren Streifzug durch die Provinz. Warum Popmusik nicht zentralisiert werden kann, erklärt als Nächstes Diedrich Diederichsen.

Jürgen Dobelmann

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