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Bleibt alles anders. Simon Rattle dirigiert auch Selbstentfremdungen.

© picture alliance / dpa

Die Sibelius-Abende der Berliner Philharmoniker: So nah, so fremd

Mit der Aufführung aller sieben Symphonien und des Violinkonzerts von Sibelius erfüllt sich Simon Rattle einen Herzenswunsch. Vor allem aber greift er tief in die Spielkultur seiner Philharmoniker ein.

Was bleibt nach drei aufeinanderfolgenden Abenden mit sieben Symphonien von Jean Sibelius und seinem Violinkonzert? Die Ohren klingeln. Man macht sich Gedanken. Zum Beispiel über die kolossale Leistung der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle. Es muss große Kraft kosten, ein Vierteljahrhundert symphonischen Schaffens in drei Abende hineinzukomprimieren, am Donnerstag die Erste und Zweite zu spielen, am Freitag das Violinkonzert und die beiden mittleren Symphonien, schließlich am Samstag die Fünfte bis Siebte, übrigens vor immer noch ausverkauftem Haus. Der Geiger Leonidas Kavakos, der als Solist für den mittleren Abend einschwebt, wird seine Alleinstellung in diesem Sinne vielleicht noch mehr als sonst genießen.

Kavakos interpretiert die Solopartie mit bewundernswert schlankem, ja barockem Ton, schenkt dem großen Konzertereigen mit dem Adagio di molto einen unvergleichlich still und intim endenden Satz und lässt sich umgekehrt von dem Irrsinn an Virtuosität, den der Finalsatz ihm abfordert, nicht aus der Ruhe bringen. Selten hat man einen Geiger auf der Bühne so wenig rudern sehen. Dass er danach, sehr erwartbar, eine Gavotte von Johann Sebastian Bach zugibt, zeigt noch einmal seine paradoxe Begabung für fahle Farbe, für Schmucklosigkeit und Konzentration.

Leonidas Kavakos also hat es gut, im Rahmen seiner eigenen Möglichkeiten kann er Sibelius ein musikalisches Komplement zur Seite stellen. Die Philharmoniker, die selbstverständlich keine Zugabe geben, haben es zwar nicht wirklich schlecht, aber mit Blick auf solche Optionen eben auch nicht leicht. Für sie muss es an diesen drei Abenden bei Sibelius bleiben, Sibelius pur, Sibelius forever.

Zart gedämpft klingen die Celli zu Beginn des Andantino der Dritten

Natürlich gibt es auch hier tiefe, eindrückliche Momente. Den Doppelsatz von Vivacissimo und Finale aus der Zweiten zum Beispiel, in dem die Streicher eine krasse Lautstärke an den Tag legen: Wie unterm Brennglas zeigt sich da das dirigentische Können Rattles, der das Orchester, ob es will oder nicht, in und durch solche Höhepunkte zu treiben vermag. Oder der kühle Einsatz des philharmonischen Klarinettisten Andreas Ottensamer, der gleich anfangs der Ersten sehr präsent, dennoch in perfekter Zurückhaltung spielt. Das Klirren und Taumeln der Flöten in Terzen und Sekunden, mit denen Sibelius eine weitere riesenhafte Steigerung im Allegro der Dritten ausschwingen lässt. Der Klang der zart gedämpften Celli zu Beginn des Andantino danach. Und dann natürlich, hallo!, das Aufblinken des Glockenspiels in der Vierten.

Fast möchte man dem philharmonischen Schlagzeuger Simon Rössler an dieser Stelle die Hand schütteln, vor lauter Dankbarkeit für die ganz neue Farbe. Denn zu den drei Abenden mit Sibelius-Symphonien gehört ja auch die leise Müdigkeit über die immergleichen Strategien, mit denen der 1865 geborene Komponist arbeitet, das Sichinnewerden darüber, dass musikalische Idiome auch über 25 Jahre hinweg recht konsistent bleiben können. Und auch wenn der finnische Musikkritikerkollege Vesa Sirén, der in der philharmonischen Konzertpause wie elektrisiert in sein Laptop hineinschreibt und sich am Schluss des letzten Abends sogleich zu stehenden Ovationen erhebt, wahrscheinlich in die Heimat meldet, dass der Kulturtransfer gelungen ist: Wir hier sind noch etwas zögerlich.

Am Ende scheint die Gattungsbezeichnung "Symphonie" nur mehr Tarnung zu sein

Bleibt alles anders. Simon Rattle dirigiert auch Selbstentfremdungen.
Bleibt alles anders. Simon Rattle dirigiert auch Selbstentfremdungen.

© picture alliance / dpa

Erstens klingeln uns von den ersten beiden Abenden tatsächlich noch die Ohren. Die vielen modalen Klänge, durch die sich so wenig Farbe einstellen will! Die Satzenden, die wie abgebrochen wirken! Die schlicht wirkenden, tatsächlich aber wenig prägnanten, sogar ausfasernden Themen, die das Zuhören so schwierig machen! Die Crescendi, die, viel deutlicher noch als die harmonischen Wendungen, als formale Mittel eingesetzt werden! Oder die Zuneigung des Komponisten zu den Bass-Streichern und Holzbläsern, dagegen der reduzierte Zugriff auf das Blech! Auch die Aufsprengung der Sätze irritiert, dergestalt, dass bereits in den frühen Symphonien von Affekteinheit oft keine Rede mehr sein kann, zuletzt in der Siebten sich alles vermischt, auch wenn gerade diese Symphonie wegen ihrer Leichtigkeit und der Abkehr vom Modalen charmant, ja französisierend klingt.

So wirken diese Stücke in der Gesamtschau wie Para-Symphonien – es braucht zwar ein ganzes Orchester dafür, sie klingen auch symphonisch, doch am Ende scheint die Gattungsbezeichnung kaum mehr als Tarnung zu sein. Damit stellt sich allerdings auch die Frage nach dem Warum. Wieso, weshalb nehmen die Berliner Philharmoniker eine solche Gewalttour auf sich?

Nun, erstens wird in diesem Jahr der 150. Geburtstag von Jean Sibelius gefeiert, der außerdem in Berlin mit der Arbeit an seiner Ersten begann. Auch wird erzählt, Rattle erfülle sich mit der Konzertreihe, die die Philharmoniker bereits 2010 einmal durchlaufen haben und die demnächst in London wiederholt wird, einen eigenen Geburtstagswunsch zum Sechzigsten. Das ist in Ordnung, schließlich muss es nicht immer ein Theaterabo oder eine Lastwagenladung Champagner sein. Überdies könnte man auch darauf kommen, dass das Publikum selbst solche Intensiverfahrungen erheischt, schließlich reagiert es auch andernorts mit Wohlwollen auf die Vorführung von Komplettem (und Kanonisiertem).

Vor allem aber drängt sich der Gedanke auf, Sir Simon wolle mit diesen Symphonien nicht nur sein persönliches Lieblingsrepertoire realisieren, sondern noch einmal erziehen, noch einmal tief in die Spielkultur des Orchesters eingreifen. Denn auch der Entvertrautmachung scheinen diese drei Abende zu dienen, der bewussten Selbstentfremdung von den gewohnten Fährten und Spieltechniken, die ein Ausflug in die bekannten Gefilde des anderen (des Alten, des Neuen) in dieser Effizienz eben nicht bieten kann. Sieben Symphonien von Jean Sibelius unter einem Dirigenten, der sich nicht nur gegen sporadische Einwände im Vorfeld, sondern auch im Konzert durchzusetzen weiß, das bedeutet nichts anderes als einen sanften Kasteiungsprozess. Ist das gut, ist das schlecht für die Berliner Philharmoniker? Es ist vor allem interessant. Und sicher hilfreich auf dem Weg Richtung ‚Multifunktionsorchester‘.

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