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Gute Dienste für die Nazis. Der Dirigent Wilhelm Furtwängler.

© Berliner Philharmoniker

"Die Staatsräte" von Helmut Lethen: Gruppenbild mit Geistern

„Die Staatsräte“: Helmut Lethens mitreißendendes Buch über die wissenschaftliche und künstlerische Elite des nationalsozialistischen Regimes.

Im September 1933 wird der Preußische Staatsrat neu konstituiert. Ein Oberhaus von Görings Gnaden, das die Nationalkonservativen an das Naziregime binden und mit Prunk und Pomp Traditionsbewusstsein demonstrieren soll. Auf der Mitgliederliste dieser Männerversammlung drängen sich die nationalsozialistischen Emporkömmlinge: Gauleiter, SA- und SS-Führer. Von den alten Eliten tauchen nur die frühen Überläufer auf. So recht in Gang gekommen ist der politisch einflusslose Staatsrat nie. Mitglieder wie Ernst Röhm wurden bald ermordet. 1936 tagte er ein letztes Mal. Von Anfang an dabei waren der Staatskapellmeister Wilhelm Furtwängler und der „Kronjurist des Dritten Reichs“ Professor Carl Schmitt. Ferdinand Sauerbruch kam 1934 dazu, der Intendant des Staatstheaters Gustaf Gründgens 1936.

Auf diese ‚Ruhmreichen Vier' konzentriert sich Helmut Lethen in seinem neuen Buch „Die Staatsräte“. Sein Interesse an den „unheimlichen Nachbarschaften“ der Intellektuellen der Weimarer Republik von Brecht bis Benn, von Arendt bis Heidegger, auf die er in seinem wichtigsten Buch, den „Verhaltenslehren der Kälte“ gestoßen war, hat nicht nachgelassen. In „Die Staatsräte“ untersucht er eine neue Konstellation unheimlicher Nachbarn: das NS-Regime und seine wissenschaftliche und künstlerische Elite. Mit dem Soziologen Bourdieu könnte man sagen, dass die von ihrer Vita so unterschiedlichen, doch mit symbolischem Kapital gleichermaßen reichlich ausgestatteten Männer einer Legitimationssphäre mit Anspruch auf universelle Anerkennung entstammen, die von den Nazis nicht einfach ignoriert werden konnte. Im Gegenteil suchte das Regime einen politisch risikolosen Weg, um als nichtlegitimierte Machthaber von ihrem Glanz zu profitieren. Ohne ihre Anwesenheit wären die ‚judenfreien' Akademiker- und Filmbälle oder die Festsitzungen der Deutschen Akademie nur noch als billige Farce erschienen.

Lethen setzt Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch und Schmitt an einen Tisch

Doch konnte Lethen „kein Dokument finden, dass bezeugt hätte, dass sich Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch und Schmitt jemals zu viert getroffen haben.“ Originell ist sein Einfall, die vier vermeintlich „Unsterblichen“ an einen Tisch zu setzen und in sieben fiktiven, zwischen 1936 und 1963 geführten Gesprächen über ihre Lieblingsthemen räsonieren zu lassen. „Geistergespräche“ nennt der Autor die Zusammenkünfte. Damit lässt er ein in der römischen Antike entstandenes und im 18. Jahrhundert populäres literarisches Genre auf subtile, reflektierte Weise wieder aufleben. In diesen Geistergesprächen im Reich der Toten erzählten die großen Verbrecher ihrer Zeit „einander ihr liederliches und böses Leben“, wie es in einem dieser Werke heißt, „daß man daraus die höchsten Grade menschlicher Bosheit und die Gefahr der Verführung erkennen kann.“

Lethens erstes Kapitel präsentiert gesichertes Wissen über den preußischen Staatsrat und die Biographien seiner vier berühmten Mitglieder. Zugleich erkundet Lethen hier die durch die historische Entwicklung nach 1933 hervorgebrachten faktischen Möglichkeitsbedingungen, die seine Idee der Geistergespräche in die Nähe des Wahrscheinlichen rücken. Die Berliner Mittwochs-Gesellschaft, ein seit 1862 bestehender Männersalon „zur freien wissenschaftlichen Unterhaltung“, Treffpunkt der Wissenschafts-, Militär- und Verwaltungseliten, die bis 1944 regelmäßig weitertagte, dient ihm als Modell für die Gespräche und ihr Protokollbuch als Fundus für die Geselligkeitsformen und Interessensgebiete dieser Schicht.

Am Ende dieses Teils stellt sich die Frage, warum der Autor nicht auf ihn verzichtet und der Erkenntniskraft seines literarischen Teils nicht stärker vertraut hat. Es hätte ein wissensgesättigter, um originelle Einfälle nicht verlegener, tiefgründiger Zeitroman entstehen können, der den Vergleich mit Werken wie Michael Köhlmeiers „Zwei Herren am Strand“ locker standhalten würde.

In den Geistergesprächen, die an symbolträchtigen Orten und zu historisch bedeutsamen Zeitpunkten stattfinden, begegnet man selbstbewussten, herausragenden Könnern in ihrem jeweiligen Metier. Helmut Lethen präsentiert sich als Erzähler, der die Nähe seiner Figuren sucht, deren Perspektiven einnimmt und fiktive innere Monologe und Gedankengänge aufzeichnet. Die vier Herren beargwöhnen sich, konkurrieren miteinander, spielen ihre Kompetenzen und ihr Wissen aus, pflegen ihre Ressentiments. Durch die wechselseitige Beobachtung entsteht ein Gruppenbild von bewundernswerter Tiefenschärfe.

„Die Staatsräte“ lässt sich auch als Buch über Carl Schmitt lesen

Lethen entwirft immer wieder unheimliche Szenerien und erfindet tatsächlich gespenstische Dialoge. Ein Höhepunkt ist der Besuch in Görings Carinhall. Die Größen der Kunst und Wissenschaft erscheinen auf einmal klein im Bannkreis der Macht. Jeder von ihnen möchte im neuen Reich weiterhin eine führende Rolle spielen, koste es was es wolle. An diesem Ort selbstgefälliger Herrschaftsrepräsentation lässt Lethen Carl Schmitt, der gerade seine Parteiämter verloren hat, zu „Gründgens' Entsetzen“ unbeirrbar über seine folgenreiche Freund-Feind-Unterscheidung dozieren. Oft macht nur das unberechenbare Verhalten der ‚Götter in Weiß bzw. Schwarz', Sauerbruch und Furtwängler, die Szenen erträglich – und komisch-groteske Elemente wie der Tritt, den Schmitt unbemerkt Gründgens' Terrier Heros auf der Terrasse von Carinhall verpasst.

In Lethens Figurenkonstellation erscheint Sauberbruch als Typus des genialen Praktikers, Schmitt als ein die Realität nach seinen Ordnungs- und Wahrnehmungsmustern zurechtbiegender Theoretiker, Furtwängler als Meister der Intuition und der Erzeugung von Stimmungen, die er für unmittelbar und tief hält. Gründgens wird als Verkörperung der ästhetizistischen Avantgarde, die auf Scheinhaftigkeit, Produziertsein und Künstlichkeit setzt, in die Debatten geschickt. Die vier Intellektuellentypen eint die obsessive Unbedingtheit, mit der sie ihre Position vertreten und ein eingewurzelter Antisemitismus. Am Ende aber bleibt ihnen nur ein zweifelhafter, von den Infamien ihres Verhaltens beschädigter Ruhm.

„Die Staatsräte“ lässt sich auch als Buch über Carl Schmitt lesen. Immer wieder wird er in den Vordergrund gerückt. Dabei fällt mehr Schatten als Licht auf ihn, nur das Gleichgewicht der Gesprächspartner geht bisweilen verloren. Lethen spürt mit niemals nachlassendem Ernst dem schwer aufzulösenden Widerspruch zwischen bestechender analytischer Fähigkeit und verhängnisvoller Lebensblindheit nach.

Es überwiegt nun: die kalte Kritik

Dem Technologen totalitärer Macht wird der Romanist Werner Krauss, Mitglied der „Rote Kapelle“ genannten Widerstandsgruppe, entgegengestellt, der in der Todeszelle eine Abhandlung über Graciáns Lebenslehre schrieb: ein Schlüsseltext für Lethen seit langem. Der Unterschied zwischen Schmitts und Krauss' Lesart Graciáns könnte größer nicht sein: hier der desavouierte Jurist, der sich immun gegen die Demokratisierungen in der jungen Bundesrepublik zu machen sucht, dort der dem Terror ausgelieferte Romanist, den die Verhaltenslehren der Kälte seine innere Ungebrochenheit, ja Unberührbarkeit erfahren lassen. Lethen: „Nein, Schmitt hätte nie verstanden, in welchen Situationen Werner Krauss die kalte persona als Experimentalfigur der Freiheit erfunden hatte.“

Lethen hat ein mitreißendes Buch geschrieben, in dem er das Beste von dem, was er in Jahrzehnten erforscht hat, originell zusammengebracht und souverän arrangiert hat. Seine Faszination an der heroischen Moderne der Zwischenkriegszeit bleibt, aber die kalte Kritik überwiegt nun. Als Schmitt die Geister der Staatsräte nach ihrem letzten gespenstischen Gespräch vor seinem Haus in Plettenberg verabschieden will, sind sie längst verschwunden. „Doch vor dem Haus – Schnee fällt – sieht er sie nicht.“ Noch einmal verbreiten sie die Kälte, die sie so sehr geschätzt haben. Der Schnee vor dem Hause Schmitt aber ist der Schnee von gestern.

Helmut Lethen: Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich. Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt. Rowohlt Berlin, Berlin 2018. 351 Seiten, 24.00 €.

Klaus-Michael Bogdal

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