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Kultur: Die Stimme seines Herrn

KLASSIK

Der Apostel Paulus war, schließt man aus seinen Taten, wahrscheinlich kein besonders angenehmer Mann. Ein Moralapostel, der die anarchistischen Hippie-Botschaften des Herrn auf gesellschaftliche Passform zurückschnitt, ein unduldsamer Fanatiker, wie alle Bekehrten. Beim Neujahrskonzert des RIAS-Kammerchors sorgt Franz-Josef Selig dafür, dass diese eckige Persönlichkeit doch hörbar wird: Sein autoritärer, schwarztöniger Bass signalisiert, dass dieser Mann nicht gerade kompromissbereit ist. Selbst die flötenden Demutsgesten, die Felix Mendelssohn-Bartholdy ihm in den Mund legt, lassen grimmige Entschlossenheit unter der honigsüßen Oberfläche ahnen. Das ist auch nötig, damit Mendelssohns „Paulus“-Oratorium nicht in wonniger Erbauungsstimmung versandet. Denn das einstmals als Gipfelwerk der romantischen Chorliteratur geltende Stück braucht heute einen entschiedenen, anschärfenden Zugriff, um noch zu fesseln. Doch gerade daran hapert es noch bei Daniel Reuss, dem neuen Chef des RIAS-Kammerchores.

Der 42-jährige Niederländer animiert seine Sänger zu einem perfekt abgerundeten, weichen Chorklang und bastelt einen romantischen Heiligenschein. Weniger scheint es ihn zu interessieren, Mendelssohns Versuch nachzuspüren, Barock, Klassik und Romantik zu verschmelzen. Nur gut, dass die Akademie für Alte Musik auf dem Podium keine besondere Zuwendung braucht, um eine farbige Klangkulisse zu liefern, und dass die Solisten - neben Selig der markige, kurzfristig eingesprungene Stephan Rügamer und die klarstimmige Sybilla Rubens, die Story lebendig erzählen. Und den Apostel von seiner Wolke herunterholen.

Jörg Königsdorf

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