zum Hauptinhalt

Kultur: Die Taube spricht

Stephen Kelmans Milieustudie „Pigeon English“

Nein, das ist kein Druckfehler: Nicht „pidgin“, sondern „pigeon“. Also: Tauben. Und trotzdem ist der Begriff selbstverständlich doppeldeutig. Denn Harri, der elfjährige Ich-Erzähler von Stephen Kelmans in England gefeiertem Debütroman, hat zum einen ein ganz besonderes Verhältnis zu den Tauben, die auf dem Balkon seiner Wohnung landen. Sie sind seine Vertrauten und seine Ratgeber.

Zum anderen ist Harri vor nicht allzu langer Zeit mit seiner Mutter und seiner Schwester aus Ghana dorthin gekommen, wo er jetzt lebt – eine triste Vorstadtsiedlung von London; ein Hochhausgetto, in dem die einzelnen Gangs ihre Bezirke klar abgesteckt haben und mit Gewalt verteidigen. Harri spricht eine Behelfssprache, eine Mischung aus Gossenjargon und blumigen Fantasieausgeburten, mit deren Hilfe er sich die Welt schönredet. Das ist das Authentizität stiftende Prinzip des Romans. Und trotzdem nervt es hin und wieder.

Davon abgesehen jedoch ist „Pigeon English“ eine detailreiche und satte Milieustudie, in der die Lebensbedingungen von Migranten zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor allem im Detail anschaulich gemacht werden: Die Mutter, die als Hebamme arbeitet, wird im Krankenhaus mit dem alltäglichen Rassismus konfrontiert. Die Tante verbrennt sich regelmäßig die Fingerkuppen – wer keine Fingerabdrücke hinterlassen kann, besitzt gegenüber der Ausländerbehörde keine überprüfbare Identität. Die Perspektive des Outlaw kennt Stephen Kelman, der selbst dem Arbeitermilieu entstammt, aus eigener Erfahrung. Die Handlung des Romans wird getragen von einem Mordfall an einem Jugendlichen, den Harri, zunächst nur im Spaß, aufzuklären sich vorgenommen hat. Schließlich ist eine Belohnung ausgesetzt, und Harri träumt davon, seinen Vater, seine Großeltern und seine kleine Schwester, die zunächst in Ghana geblieben sind, nach England zu holen. Dass er von den Tätern offenbar ernst, tödlich ernst genommen wird; dass die Grenzen zwischen Kinderspiel und Lebensrealität in Harris Umfeld fließend sind – das ist die bittere Schlusspointe dieses Romans.

„Gewalt ging euch immer zu leicht von der Hand“, sagt die Taube einmal, „das ist das Problem.“ In diesem Fall ein tödliches. Christoph Schröder

Stephen Kelman: Pigeon English.

Roman. Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Berlin Verlag, Berlin 2011.

298 S., 19,90 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false