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Kultur: Die Traumtänzer

Sommerromanze: Stéphane Brizés Debütfilm „Man muss mich nicht lieben“

Wie es enden wird, sieht Jean-Claude vor sich, in Gestalt des eigenen Vaters. Der lebt im Altersheim, ein Schloss mit Park zwar, aber trotzdem trostlos, terrorisiert dort das Pflegepersonal und freut sich einzig auf den wöchentlichen Pflichtbesuch des Sohnes – um sich dann mit ihm nach Herzenslust zu streiten, beim Monopoly-Spiel, über den Schokoladenanteil von Pralinen oder seine Sammlung von Sporttrophäen. Dass er, nachdem JeanClaude gegangen, sehnsüchtig hinter der Gardine steht, ihn beim Abfahren beobachtet, schnell einen Schritt zurücktritt, um nicht gesehen zu werden – der Sohn weiß es zwar. Es ändert nichts.

Wie es angefangen hat, kann JeanClaude auch beobachten, in Gestalt seines Sohnes, der gerade als Nachwuchskraft in der Kanzlei anfängt. Schüchtern, verdruckst, unglücklich steht er im kahlen Zimmer mit den Aktenschränken, trinkt verlegen einen Begrüßungssekt mit Jean-Claude und der ältlichen Sekretärin, ein Gespräch kommt nicht in Gang. Und später, als er seinen ganzen Mut zusammengenommen hat, um dem Vater zu sagen: Ich kündige, ich halte das hier nicht mehr aus, kommt nach langem Drucksen nur heraus, dass er sich Topfpflanzen für sein Zimmer wünscht. Dass Jean-Claude spät am Abend im Bürozimmer des Sohns steht, sehnsüchtig – dieser ahnt es vielleicht. Es ändert nichts.

Ein Leben in der Zwischenhölle, entscheidend sind Alltäglichkeiten wie ein Streit um Topfpflanzen und Sportpokale, mehr nicht. Die wirklich großen Dramen bekommt Jean-Claude jeden Tag bei der Arbeit mit: Er ist Gerichtsvollzieher und hat längst gelernt, sich zu panzern gegen das Elend. Mein Freund hat mich verlassen, ich kann die Miete nicht zahlen, wo soll ich denn hin, immer die gleichen Ausflüchte, und er verweist trocken auf Recht und Gesetz. Doch wenn man sieht, wie mühsam er die Treppen emporkeucht, als lasteten Zentnergewichte auf ihm, weiß man: Das geht nicht gut.

Sie müssen Sport treiben, sagt der Arzt. Herzrhythmusstörungen, das kann gefährlich sein. Fahrradfahren schlägt er vor, oh nein, Fahrradfahren, bloß nicht, vielleicht Tennis stattdessen? Doch Tennis ist Gift, zu aufregend fürs Herz. Man einigt sich auf Tanzen. Und praktischerweise ist gegenüber der Kanzlei eine Tanzschule, und schon immer hat Jean-Claude hinter der Gardine gestanden, wie sein Vater hinter der Gardine stand, und herübergeblickt, das Fenster den Klängen geöffnet. Jetzt steht er eines Abends selbst dort drüben, tanzt gar nicht so schlecht, nur etwas ungelenk und schüchtern, und natürlich ist dort eine schöne, junge Frau, Françoise, die Tanzen übt für ihre Hochzeit, und man tanzt einen ersten Tango miteinander, und bald mit keinem anderen mehr, und übt dann in der Wohnung abends heimlich weiter. Ein schönes Paar, die beiden. Nur im Tanz.

Die älteste Geschichte der Welt, frustrierter älterer Mann, keine Erwartungen mehr im Leben, trifft junge Frau, und dann kommen Liebe und Leben zurück. Typisch auch, dass es beim Tanzen passiert: „Shall we dance?“, der japanische Erfolgsfilm, hat das durchexerziert, auch im amerikanischen Remake mit Richard Gere. Nicht sehr originell, die Konstellation. Warum nur ist Stéphane Brizés Debütfilm „Man muss mich nicht lieben“, gefeiert beim Festival von San Sebastian, ausgezeichnet als „Arthouse-Entdeckung der Saison“, trotzdem einer der schönsten Filme dieses Sommers, ein kleiner Film, ein zarter, schüchterner, einer ohne klares Ende, der nur ganz wenig zulässt, und das Wenige ist unendlich viel?

Vielleicht, weil Patrick Chesnais und Anne Consigny so ein perfektes Paar sind. Beide schüchtern, beide grau, müde und deprimiert, und kurz nur, wenn sie tanzen, ist da ein inneres Leuchten, das sie schön macht, beide. Leichter für Anne Consigny, mit diesem offenen Gesicht, den markanten Brauen, dem hinreißenden Lächeln. Gehört schon einiges dazu, diese Frau als hässliches Entlein zu zeigen, auf dass sie ein Schwan wird. Doch es gelingt. Und Patrick Chesnais, mit sich lichtendem Haar und Schnäuzer, Rücken gebeug t. Vielleicht, dass diese beiden uns so rühren, weil sie uns so nah sind. Wie auch der Verlobte von Françoise, der, glücklich über den Fortschritt seiner Doktorarbeit, nicht fühlt, wie Françoise ihm entgleitet. Wie die Mutter, die schon die Hochzeit plant. Und die Schwester, die ängstlich warnt: Verpatz dir dein Leben nicht, für eine Romanze. Dass so eine Romanze das Leben ist – begreift Françoise es? Ende offen. Die große Liebe kommt auf leisen Sohlen.

In den Kinos Capitol, Filmkunst 66, Kino in der Kulturbrauerei, fsk Oranienplatz und Hackesche Höfe (beide OmU)

Christina Tilmann

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