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Kultur: Die Verführbarkeit des Materials - Tagung untersucht die Konstruktion nationaler Geschichtsbilder in Deutschland, Frankreich und Polen

"Freut euch des Lebens" - ganz zart intoniert ein Glockenspiel diese Melodie zu der Außenansicht eines Konzentrationslagers. Joachim C.

"Freut euch des Lebens" - ganz zart intoniert ein Glockenspiel diese Melodie zu der Außenansicht eines Konzentrationslagers. Joachim C. Fest fügte 1977 diese so konträren Elemente in seinem Film "Hitler - eine Karriere" zusammen und ließ ihnen Bilder von Volksfesten im Dritten Reich folgen, nun mit "Freut euch des Lebens" als Kirmes-Marschmusik unterlegt. Eine "fatale filmische Fehlleistung" sieht Filmprofessor und Filmemacher Hans Beller in dieser Sequenz. Beller thematisierte den Umgang mit historischem Filmmaterial und legte so die Basis für die dreitägige Tagung "Geschichte wird gemacht", die das Stuttgarter "Haus des Dokumentarfilms" in Berlin veranstaltete.

Welche Rolle Dokumentarfilm und Fernsehen bei der Konstruktion nationaler Geschichtsbilder spielen, war die zentrale Frage, und die Erweiterung des Schauplatzes über Deutschland hinaus auf Frankreich und Polen tat der Tagung durchaus gut. Immer wieder bezog sich die Diskussion auf die filmische Darstellung der Epoche des Nationalsozialismus, doch die Darstellung der dokumentarischen Filmarbeit in den beiden Nachbarländern öffnete den Blick auf aktuelle Tendenzen, Zeitgeschichte filmisch aufzugreifen. Nach wie vor bedient man sich dabei gerne historischen Filmmaterials. Der Kompilationsfilm wählt Material aus, um es in aufklärerischem Interesse neu zu kombinieren. Hans Beller sprach von "detektivischer Lust" und zitierte Pierre Billard: Er fühle sich angezogen von dem "seltsamen Abenteuer", "unter Tausenden von Metern vorhandenen Filmmaterials neue Zusammenhänge, Anregungen oder Auslegungsmöglichkeiten zu entdecken, die dem bereits gebrauchten Material neues Leben und neue Wichtigkeit verleihen können". Allerdings stecke der kompilatorische Dokumentarfilm, der die Zeit des "Dritten Reiches" darstellen will, in dem Dilemma, dass er genau "auf das filmische Material angewiesen ist, das seine aufklärerischen Intentionen sabotiert". Filmmaterial von Amateuren aus jener Zeit, das die Bilder der Nazi-Propaganda relativieren oder widerlegen sollte, erschien im Vergleich dazu dilettantisch.

Die Beschränkung auf verfügbares Material wurde als Problem auch bei der französischen Produktion "La foi du siècle" (Zwischen Glaube und Hoffnung, Arte) deutlich. Die Autoren Patrick Rotman und Patrick Barbéris versuchen in ihrer auf vier Teile angelegten Fernsehproduktion, die internationale Geschichte des Kommunismus nachzuzeichnen. Sie interessieren sich für die "fatale Anziehungskraft" der kommunistischen Ideologie, die Wirkungsmechanismen der Propaganda. In dem vorgeführten einstündigen zweiten Teil des Films gelingt es den Autoren jedoch nur teilweise, die Lebenssituation der Arbeiter in der Sowjetunion, Deutschland, Spanien und Frankreich auf die Verheißungen des Kommunismus zu beziehen: Zu dominant sind die historischen Aufnahmen von Parteitagen, Aufmärschen und Kämpfen, zu wenig die Bilder vom ungeschönten Alltag. Einen wichtigen Beitrag zur Geschichtsschreibung leisten dagegen Bernard Langlois und Mehdi Lallaoui mit ihrem Dokumentarfilm "Les massacres de Setif". Sie schildern die blutige Unterdrückung algerischer Unabhängigkeitsbestrebungen, die anlässlich der Feiern des Endes des Zweiten Weltkriegs zum ersten Mal öffentlich artikuliert wurden. Französische Kolonialtruppen verhafteten und töteten Tausende von Menschen. Die Massaker blieben jahrzehntelang ein Tabu, genauere Untersuchungen wurden verhindert oder in ihren Ergebnissen massiv verfälscht. "Les massacres de Setif" stützt sich nicht nur auf historisches Filmmaterial, sondern auch auf die Aussagen von Zeitzeugen.

Ernst Klees Dokumentarfilm "Sichten und Vernichten" sezierte ein weiteres, ein deutsches Tabu: das von der Psychiatrie, die vom Nationalsozialismus für die Vernichtung sogenannten "unwerten Lebens" funktionalisiert, wenn nicht mißbraucht wurde. Klee wies nach, dass die Psychiatrie in Deutschland schon lange vor der nationalsozialistischen Machtergreifung Behinderten und psychisch Kranken das Recht auf Leben absprach. Angesichts solcher Beispiele erschienen einige Diskussionsbeiträge auf der Tagung, die gesellschaftlichen Tabus generell eine wichtige Funktion zusprachen und auf sie nicht verzichten wollten, als nicht weiterführende akademische Provokation. Sicherlich die gelungenste Mischung verschiedener dokumentarischer Filmformen boten die polnischen Beiträge. Trotz des massiven Umbaus der Gesellschaft knüpft der polnische Dokumentarfilm an seine erfolgreiche Tradition an. "Die verpatzte Hinrichtung" schildert, basierend auf den Tonaufzeichnungen einer Radioreportage, die Hinrichtung des früheren Gauleiters im "Warthegau", Artur Greiser, im Jahre 1946. "Motls Jacketts" lässt zwei alte jüdische Schneider über Jacketts, Moden und politische Entwicklungen plaudern und vereint so Informationen über die für Polen zentralen Ereignisse mit einer stimmigen Schilderung zweier Juden, die über Jacketts ins Schwärmen geraten können. Ausschnitte aus Filmen jüngerer polnischer Filmmemacher (einige von ihnen zeigt das "Polnische Kulturinstitut" am 5. und 6. November) machten deutlich, dass der polnische Dokumentarfilm sich sensibel den Lebensbedingungen im heutigen Polen zuwendet.

Anlässlich des zehnten Jahrestags des Mauerfalls sind derzeit etliche Versuche zu beobachten, sich Geschichte passend zurechtzulegen. Wie das gelingt oder scheitert, zeigt der zweiteilige Dokumentarfilm "Schlussverkauf DDR - die Geschichte der Treuhandanstalt", auf der Tagung präsentiert und am 3. und 4. November bei Arte zu besichtigen.

Eckart Lottmann

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