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Fürchte dich nicht. Dieses Altarbild eines Meisters aus Lucca vom Anfang des 16. Jahrhunderts

© SMB/Gemäldegalerie/Jörg P. Anders

Die Verkündigung Mariä in der Kunst: Kommt ein Fremder geflogen

Kein Weihnachten ohne die Verkündigung an Maria. Ein Engel dringt ins Haus ein, seine Botschaft macht erst einmal Angst. Über die Begegnung zweier Welten.

Meistens kommt der Engel von links. Klopft nicht an, rauscht einfach rein in seinem Reise-Outfit, mit Wanderstab, pfauengefiederten Flügeln und windzerzaustem Gewand. Der Weg war weit, er kann sich kaum bremsen.

Kommt ein Fremder geflogen, und der macht erst einmal Angst. Die junge Frau ist allein zu Hause in Nazareth, sie ist vollständig in ihre Lektüre versunken, und jetzt fährt ihr der Schreck in die Glieder. Nicht mal in den eigenen vier Wänden ist man noch sicher. Schützend verschränkt sie die Arme vorm Körper, zurrt ihr Gewand fest, wehrt den Eindringling ab, hebt die Hand, eine deutliche Geste. Aber es hilft nichts, im Gegenteil. Die Botschaft, die der Fremde mitbringt, ist erst recht eine Zumutung, eine geradezu körperliche Attacke. Fragt nicht und kommt gleich mit Schwangerschaft. Übergriffig ist gar kein Ausdruck. Und dann sagt er auch noch: Fürchte dich nicht!

Unter den religiösen Darstellungen ist die Verkündigung Mariä eins der seltsamsten, in seiner stillen Explosivkraft ungeheuerlichsten Bildmotive. Der Erzengel Gabriel teilt Maria mit, dass sie ein Kind bekommen wird, obwohl sie noch nicht mit ihrem Verlobten, dem Zimmermann Josef, geschlafen hat. Und dass dieses Baby ein Gott ist, genauer: Gottes Sohn. Was jetzt, Gott oder Mensch, geht’s noch?

Vor allem die Renaissancekünstler haben die Szene aus dem Lukas-Evangelium in zahlreichen Varianten gemalt. Mal mit heiligem Geistesblitz von hoch oben, mal mit Gottvater auf seinem Wolkenbalkon, mal mit Taube als „Erzeuger“, mal saust das Jesuskind persönlich vom Himmel Richtung Maria. Und deren Bauch wölbt sich gleich, als sei sie auf der Stelle hochschwanger.

Hier soll es jetzt nicht um das Mysterium der Jungfrauengeburt gehen, nicht um Fragen des Glaubens, sondern um die Kollision zweier Welten. Der Fremde und die Frau, die äußere und die innere Sphäre, Angriff und Angst, Gewalt und Geheimnis, Intimität und Respekt – davon erzählt die Verkündigung.

Noch sind die Welten getrennt. Diptychon eines Meisters um 1500, mit auf Goldgrund herbeischwebendem Engel. Maria am Betstuhl hat ihre Schuhe abgestreift.
Noch sind die Welten getrennt. Diptychon eines Meisters um 1500, mit auf Goldgrund herbeischwebendem Engel. Maria am Betstuhl hat ihre Schuhe abgestreift.

© SMB/Gemäldegalerie/Jörg P. Anders

Horch, was kommt von draußen rein. In manchen frühen Darstellungen sind die Welten noch strikt getrennt. Giotto hatte das Personal in der Scrovegni-Kapelle Anfang des 14. Jahrhunderts säuberlich aufgeteilt, Gabriel links und die Muttergottes rechts vom Triumphbogen platziert. In der Berliner Gemäldegalerie hängt ein kleines, kaum 20 Zentimeter großes Diptychon eines Brügger Meisters: hier der Engel auf Goldgrund, ein herbeischwebendes himmlisches Wesen mit Taube im Aureolen-Schlepptau, eine Ikone. Dort die an ihrem Betstuhl kniende, sich erstaunt umwendende Maria in häuslicher Umgebung, nach Art der niederländischen Genrebilder.

Das Eigene und das Andere: ein Angriff, eine Zumutung

Anmut oder Mut: Meistens geht es dramatischer zu als auf den zauberhaften Bildern von Fra Angelico, von dem die anmutigsten Verkündigungen stammen, die schönsten Engel sowieso. In der Florentiner Kunst des 15. Jahrhunderts, bei den Flamen, auch in Deutschland wird eine theatralische Überwältigungsszene daraus. Auf Matthias Grünewalds Isenheimer Altar ist der Vorhang zur Seite gerissen, der Engel zeigt mit spitzem Finger auf die wehrlose Frau, die vor lauter Schockstarre kaum zurückweichen kann. Oder er redet auf sie ein, gibt sichtlich keine Ruhe, weshalb Wortbänder seinem Mund entweichen und beider schwungvoll gefältelte Gewänder sich beinahe verheddern.

Die schönsten Engel hat Fra Angelico gemalt. Diese "Verkündigung" entstand 1440 als Wandbild für das Kloster San Marco in Florenz.
Die schönsten Engel hat Fra Angelico gemalt. Diese "Verkündigung" entstand 1440 als Wandbild für das Kloster San Marco in Florenz.

© Iimago/Herb Hardt

Ein Akt der Überwältigung: Matthias Grünewalds "Verkündigung" für den Isenheimer Altar, heute im Museum Unterlinden in Colmar.
Ein Akt der Überwältigung: Matthias Grünewalds "Verkündigung" für den Isenheimer Altar, heute im Museum Unterlinden in Colmar.

© imago stock&people

Das Gnadenbild in der Kirche Santissima Annunziata in Florenz, um 1360. Ein Engel soll Marias Gesicht zu Ende gemalt haben.
Das Gnadenbild in der Kirche Santissima Annunziata in Florenz, um 1360. Ein Engel soll Marias Gesicht zu Ende gemalt haben.

© Wikimedia Commons

Öffentlicher Raum und Privatsphäre sind nicht länger voneinander geschieden, auch wenn eine korinthische Säule die beiden manchmal noch separiert. Oder eine Vase mit hochgewachsener Lilie, Symbol der Jungfräulichkeit: Im Hohen Lied des Alten Testaments wird Maria die Lilie unter den Disteln genannt.

Dass gerade die Renaissancemaler in Florenz das Thema so liebten, hatte zunächst praktische und fromme Gründe. Mariä Verkündigung war einer der höchsten Feiertage der Stadt, bald wurde das Gnadenbild in der Kirche Santissima Annunziata zum Vorbild für ganze Generationen: Der Engel (von links!) und Maria vereint auf dem Bild eines unbekannten Künstlers, und Marias Gesicht soll von niemand Geringerem als einem Engel zu Ende gemalt worden sein. Auf den zweiten Blick steckt mehr dahinter, das Gegenteil von Aberglaube. Es war ja die Renaissance insgesamt, die die Wirklichkeit entdeckte, den biblischen Gestalten und Heiligenfiguren menschliche Züge verlieh und die idealisierten Bildhintergründe durch realexistierende Landschaften ersetzte. Verkündigung, das ist der Einbruch der Realität in die sakrale Kunst, die Öffnung des Horizonts, die Sensation der Perspektive.

Realismus der Renaissance, mit Maria als Nobeldame oder als belesene Bürgersfrau

Schon bald residiert Maria in einer Luxusvilla vor den Hügeln der Stadt, die in Piero del Pollaiuolos „Verkündigung“ (ebenfalls in der Gemäldegalerie) mit marmornen Fußböden und prunkvoll gearbeiteten Pilasterwänden ausgestattet ist. Oder sie empfängt unter dem Türsturz eines Palasts, eines Patrizierhauses, unter Kolonnaden, in einer Eckloggia. Architekturen, die eine weniger devote als stattliche Frau rahmen und einer zunehmend selbstbewussten Stadtgesellschaft als Raumbühnen dienen. Oder der Fremdling stöbert die Muttergottes in spe im bürgerlichen Schlafgemach auf, wo sie nicht nur in der Bibel blättert, sondern auch Nähzeug oder Spindel zur Hand hat. Der soziale Status bemisst sich an den Attributen des Häuslichen und den mal kostbar geschmückten, mal in nobler Schlichtheit gehaltenen Kleidern.

Zu sehen in der Berliner Gemäldegalerie: Piero del Pollaiuolos "Verkündigung" in einer prunkvollen Villa in den Hügeln. Das Fenster gibt den Blick auf Florenz frei.
Zu sehen in der Berliner Gemäldegalerie: Piero del Pollaiuolos "Verkündigung" in einer prunkvollen Villa in den Hügeln. Das Fenster gibt den Blick auf Florenz frei.

© SMB/ Gemäldegalerie/Jörg P. Anders

Und der Engel? Grüßt von der Straße, kniet im Garten, im weitläufigen, häufig umschlossenen Park. Meist tut er dies vor geöffneten Fenstern oder Mauern, die den Blick auf die große, weite Welt freigeben, mit sich bis in die Ferne schlängelnden Pfaden und Stadtpanoramen. Auch das entspricht der Vorstellung von Angriff, von Zudringlichkeit: Der hortus conclusus, im Alten Testament wie in der Mystik ein weiteres Symbol für Jungfräulichkeit, ist nicht länger ein Schutzraum oder ein Gefängnis, sondern Schauplatz einer Begegnung der dritten Art. Die Außenwelt lässt sich auf die Dauer nicht fernhalten.

Der Engel als Wirbelwind, mit Putten im Gefolge. Tintorettos Verkündigung (1582-87) in der Scuola di San Rocco, Venedig.
Der Engel als Wirbelwind, mit Putten im Gefolge. Tintorettos Verkündigung (1582-87) in der Scuola di San Rocco, Venedig.

© Wikimedia Commons

Gewalt oder Liebe? Der Moment der Verkündigung sprengt Schutzräume auf

Im 16. Jahrhundert wird es dann noch dramatischer. Bei Tizian oder Tintoretto kommt der ungebetene Gast tatsächlich wie ein Wirbelwind auf Gewitterwolken herbeigeweht. Ein wilder Gedanke, der sich manifestiert, ein Geist aus der Flasche, manchmal mit einem Regiment von Putten im Gefolge.

Das Andere behelligt das Eigene, nur so kann etwas entstehen, dass das menschliche Fassungsvermögen übersteigt. Manche nennen es Gott.

Übrigens haben die Maler sich schon früh Gedanken über die Gewalt gemacht, die der Verkündigung innewohnt. Leonardo da Vinci störte sich sichtlich daran. Der Engel sehe aus, „als wollte er Unsere Liebe Frau aus dem Zimmer verjagen, mit Bewegungen, die eine solche Schmähung ausdrückten, wie man sie etwa dem niederträchtigen Feind zuteilwerden ließe“, empörte er sich und hatte den Eindruck, Maria wolle sich gleich aus dem Fenster stürzen. Wahrscheinlich schrieb er dies mit Blick auf Sandro Botticellis Version von 1489.

Man muss diese Wahrnehmung nicht teilen (oder er meinte doch ein anderes Werk): Die Körperhaltung der Gottesmutter bei Botticelli zeugt auch von Demut, und der Engel entbietet seinen Segensgruß immerhin auf Knien.

So oder so hatte Leonardo wenige Jahre zuvor eine ganz andere, geradezu kühne Verkündigung gemalt. Maria sitzt nicht im Haus, sondern an der Schwelle zum Garten, eine souveräne, königliche Gestalt, mindestens ebenbürtig mit Gabriel auf der Wiese und eher grüßend als abwehrend. Zwei Gleichgesinnte auf Augenhöhe.

Es kann auch ein bürgerliches Idyll sein, mit einer äußerst belesenen Frau in der guten Stube und dem Zimmermann in der Nebenkammer: Triptychchon von Robert Campin, um 1427-32. Durchs Fenster saust ein winziges Jesuskinde mit Kreuz auf der Schulter herein.
Es kann auch ein bürgerliches Idyll sein, mit einer äußerst belesenen Frau in der guten Stube und dem Zimmermann in der Nebenkammer: Triptychchon von Robert Campin, um 1427-32. Durchs Fenster saust ein winziges Jesuskinde mit Kreuz auf der Schulter herein.

© imago/Artokoloro

Fürchte dich nicht. Sandro Botticellis dramatische, ebenfalls in einer Nobelvilla angesiedelte „Verkündigung“ von 1489/90 hängt in den Uffizien in Florenz.
Fürchte dich nicht. Sandro Botticellis dramatische, ebenfalls in einer Nobelvilla angesiedelte „Verkündigung“ von 1489/90 hängt in den Uffizien in Florenz.

© imago/United Archives Internatio

Leonardo da Vincis kühne "Verkündigungs"-Version von 1472 vertreibt die Angst aus der Begegnung, zeigt Maria und den Engel auf Augenhöhe.
Leonardo da Vincis kühne "Verkündigungs"-Version von 1472 vertreibt die Angst aus der Begegnung, zeigt Maria und den Engel auf Augenhöhe.

© Wikipedia

Die christliche Lehre unterscheidet fünf Stadien bei der Verkündigung. Auf die Conturbatio folgen Cogitatio, Interrogatio, Humilitatio und Meritatio, also Verwirrung, Nachdenken, Nachfragen, Unterwerfung und Wertschätzung. Die Sache mit der Unterwerfung – „mir geschehe nach deinem Wort“ – geht einem heute schwer gegen den Strich. Die Frau als fügsame Magd, das ist ein überkommenes, sexistisches Muster.

Aber die Geschichte lässt sich auch anders lesen. Maria wehrt sich ja, sie will es wissen, wie, weshalb, warum. Sie protestiert, argumentiert mit dem Engel, und der muss sich erklären, muss begründen, was den Verstand übersteigt. Hallo Welt: Die Humilitatio wäre so gesehen der Augenblick der Erkenntnis, dass die eigene kleine Privatheit in ihrer Beschränkung auf die Dauer nichts taugt. Wir schaffen das, wir sind so unbescheiden. Auch wenn vieles dagegen bespricht.

Es ist wie mit der Liebe. Auch sie übersteigt das Fassungsvermögen

Der Moment der Verkündigung, auch davon erzählen die Bilder, sprengt die Grenzen der Zeit. Maria liest gerade bei Jesaja die Stelle mit der Wurzel Jesse, eine Vorschau auf ihre eigene Biografie. In manchen Darstellungen – es gibt auch Reliefs, Buchmalereien, Bleiglasgemälde, Figurengruppen – ist die Vertreibung aus dem Paradies an den Bildrand gerückt, noch so eine unfreiwillige Flucht aus dem Paradiesgarten. Auf anderen Bildern hat das auf seinem Glitzerstrahl herbeiflitzende Jesuskind sein Kreuz schon geschultert. Geburt in der Notunterkunft, Flucht vor Herodes’ Soldaten, Exil in Ägypten, grausamer Tod des eigenen Sohns – die Welt ist seitdem nicht friedlicher geworden. Die Frau aus Nazareth begreift das in diesem Moment.

Intime Szene: Gaudenzio Ferraris "Verkündigung" aus dem Jahr 1512 ist in der Berliner Gemäldegalerie zu sehen.
Intime Szene: Gaudenzio Ferraris "Verkündigung" aus dem Jahr 1512 ist in der Berliner Gemäldegalerie zu sehen.

© Wikimedia Commons

Es ist wie mit der Liebe. Auch sie entzieht sich der Ratio, bleibt mit Verwirrung und Zweifeln behaftet, sprengt die Grenzen des Ich. Die Verkündigungs-Bilder halten diesen ungemein intimen Moment fest, so etwas wie Angstlust, eine nervöse erste Annäherung. Auf dem Diptychon aus Brügge hat Maria ihre Schuhe abgestreift, manchmal tänzeln die beiden. Die Choreografie der Gesten, die Dramaturgie der Blicke, die gesamte Körpersprache spricht Bände. Und wie alle Engel trägt Gabriel meist feine, feminine Züge.

Gaudenzio Ferrari hat seine „Verkündigung an Maria“ (1512) unmissverständlich als Liebesszene gemalt, auch sie hängt in der Gemäldegalerie. Die Lilie steht nicht zwischen den beiden, der Engel überreicht die Blume seiner Angebeteten. Die zartgliedrigen Finger malen Luftbotschaften, sie berühren sich fast. Maria, bestimmt im fünften Monat, neigt ihr Gesicht dem Ankömmling zu, keine Spur mehr von Fremdheit. Besser, wir stehlen uns leise davon und stören nicht länger.

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