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Kultur: Die Verwundbarkeit des Lebens

5,1 Millionen ohne Job: Ein Gespräch mit dem Soziologen Wolfgang Engler über die Zukunft einer arbeitslosen Gesellschaft

Herr Engler, schauen Sie manchmal tagsüber fern?

Durchaus, vor allem Nachrichten. Wieso?

Nachmittags sitzen vor allem Menschen, die nichts Besseres zu tun haben, vor dem Fernseher, um etwa die Gerichtsshows bei RTL und Sat 1 zu gucken. Harald Schmidt erfand dafür die Formel „Unterschichtenfernsehen“. Ist das die Rhetorik eines neuen Klassenkampfs?

Die intellektuelle Verachtung von Menschen, die aus ihrem Alltag in die Nonstop-Unterhaltung fliehen, ist kein neues Phänomen. Schon Hannah Arendt hat in ihrem Buch „Vita activa“ ihrem Ressentiment gegen Arbeiter und Angestellte freien Lauf gelassen, die nach der Arbeit nach Hause kommen und, anstatt ein gutes Buch zu lesen, ihr Radio oder den Fernseher einschalten.

Momentan gibt es 5,176 Millionen Arbeitslose in Deutschland, das Entstehen einer neuen Unterschicht ist eine Tatsache. Der Ton, in dem Arbeitsplatzbesitzer mit Nicht-Arbeitsplatzbesitzer kommunizieren, ist härter geworden.

Die Unterscheidung zwischen denen, die Arbeit haben, und jenen, die keine haben, war nicht das beherrschende Thema der alten Bundesrepublik, der DDR schon gar nicht. Dieses Unterscheidungsmerkmal taucht erst jetzt, wo die Ressource Lohnarbeit knapp wird, als gruppenbildende Kategorie wieder auf. Was fehlt, ist ein Revival der traditionellen Formen von Klassenkampf. Getragen wurde dieser Kampf von der organisierten Arbeiterschaft, die anderen galten immer schon, selbst bei der Linken und bei Marx, als Pauper-Ersatz, als unzuverlässige Leute, die eher mit der politischen Reaktion ihre Geschäfte machen, als dass man politisch auf sie bauen könne. Dieses Bild der Arbeitslosen hat sich bis heute gehalten.

Wie muss man die neue Unterschicht in den Blick nehmen?

Traditionell gelten Arbeitslose als diejenigen, die verloren sind – für die Lohnarbeitsgesellschaft, vielleicht auch für die Demokratie. So pessimistisch bin ich nicht. Die Arbeitslosen sind keine unterschiedslose Großformation, das Spektrum reicht vom Hilfsarbeiter, der sich gegen die Konkurrenz aus Osteuropa nicht mehr behaupten kann, zum Ingenieur oder Manager. Zum ersten Mal spürbar wurde die Verwundbarkeit des Lebens bis in die gehobene Mittelschicht hinein Mitte der Neunziger in den USA. Damals veröffentlichte die New York Times einen Report über die wirtschaftliche Lage des Landes im Zeitalter der Globalisierung. In den folgenden Leserbriefen überwogen die Klagen der Arbeitslos-Gewordenen. Daraus sprach ein Abgrenzungsbedürfnis gegenüber denjenigen, die eigentlich dorthin, ins Elend, gehörten. Schlimmer noch als die Arbeitslosigkeit war die Tatsache, dass man sich nun mit einem Schwarzen, der gerade aus dem Knast gekommen war, in einer Kategorie befand.

In Ihrem Buch „Bürger, ohne Arbeit“ fordern Sie, sich von der nach dem Zweiten Weltkrieg herrschenden Losung „Wachstum = Beschäftigung“ zu verabschieden. Was wäre die Alternative?

So lange die Wachstumsraten hoch waren, sorgten sie nicht bloß für Beschäftigung, sie vermittelten auch jedem, der eine Arbeit hatte, die Möglichkeit, mittels dieser Arbeit eine Stellung in der Gesellschaft zu erringen. Wenn diese Gleichung nicht mehr aufgeht, dann stellt sich verschärft die Frage nach dem Leben derer, für die das Erwerbssystem keine Verwendung mehr hat.

Worauf zielt die radikale Neuordnung der Gesellschaft, die Sie fordern?

Auf die Einrichtung von Lebensverhältnissen, die in die Gesellschaft eingebunden bleiben, auf ein lebenswürdiges Dasein, das nicht dadurch begründet ist, dass ein Mensch arbeitet. Man kann dieser Idee unterschiedliche Titel geben, „Basic Income“ oder „Grundeinkommen“. Ich bevorzuge den Begriff „Bürgergeld“; mir ist der Bürger wichtig, der Mensch, der nicht arbeitet und trotzdem Bürger bleibt. Der Satz „Du sollst nicht essen, weil du nicht arbeitest“ wird nicht mehr so strikt wie im 19. Jahrhundert befolgt, aber er bleibt der Background auch der heutigen Hartz-IV-Realität.

Die Arbeitslosen wurden lange mit Geld ruhig gestellt, damit hat Hartz IV Schluss gemacht.

Die Frage ist, wie aktivierend die Kopplung von Arbeitslosengeld II an eine Arbeitspflicht ist. Ich kann es mir nicht vorstellen, dass 5,2 Millionen sinnvolle Arbeitsverhältnisse geschaffen werden. Es läuft auf die Fata Morgana hinaus, neben die bestehende Arbeitswelt ein zweites ökonomisches Universum zu setzen.

Was unterscheidet ein Bürgergeld von der Alimentierung der Arbeitslosen?

Ob es dies Bürgergeld ohne Gegenleistung geben sollte, ist eine kontrovers diskutierte Frage. Ulrich Beck oder Jeremy Rifkin binden das Bürgergeld an gemeinnützige Arbeit. Die Gegenposition besetzt André Gorz, dem ich mich anschließe und der für ein bedingungsloses Grundeinkommen aller Bürger plädiert. Dieses Modell sieht weder finanzielle Offenbarungseide noch das Hineinregieren von Ämtern in private Beziehungen vor. Ich folge Gorz allerdings nicht in seiner Hoffnung, dass Menschen, die ein solches Grundeinkommen beziehen, von sich aus jenen Eifer zeigen würden, zu dem sie es bislang nur unter Druck brachten. Es bedürfte einer kulturellen Revolution, um die Nachwachsenden mit einem Motiv zu begaben, das sie auch dann aktiv werden lässt, wenn sie nicht arbeiten. Arbeitslosigkeit, das wissen wir, führt zum Rückzug, zur Abstumpfung.

Die Kernfrage: Was bleibt vom Menschen, wenn man die Arbeit von ihm abzieht?

Als eine Gruppe von Soziologen 1932, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, das österreichische Industriedorf Marienthal besuchten, waren sie nicht so sehr von dem materiellen Elend betroffen, sondern von der Tatsache, dass die kostenlosen Buchausleihen in der Bibliothek auf Null zurückgegangen waren. Das einzige Geschenk, das sich mit Arbeitslosigkeit verbindet, freie Zeit, wird als tragisches Geschenk empfunden. Die Zeit vergeht, und ich fülle sie nicht. Das ist das Schlimmste, was einem ohne Arbeit passiert. Die Soziologen sprachen in ihrer berühmt gewordenen Studie von der „müden Gesellschaft“, einem Phänomen, das wir allzu gut kennen.

Millionen Menschen, konstatieren Sie in Ihrem Buch, empfinden ihre Arbeit als „Inbegriff des In-der-Welt-Seins“.

Arbeit bettet den Menschen in die Gesellschaft ein, sei es dadurch, dass er soziale Kontakte hat in der Arbeitswelt, zur fachlichen Bildung oder zum Austausch mit anderen veranlasst wird. Arbeit öffnet viele Portale in die Gesellschaft. Der Arbeitslose muss alle Betätigungsformen aus sich selbst heraus entwickeln.

Historisch greift Ihr Buch weit zurück, Sie beschreiben einen Prozess, der sich über Jahrhunderte hinzog: Von der „Befreiung in Arbeit“ zu der „Befreiung von Arbeit“. Können Sie das näher erläutern?

Das sind zwei sich heftig bekämpfende, aber eng miteinander verbundene Anschauungen. Marx tendierte zum ersten Aspekt: Die Arbeit hat den Menschen erst geschaffen, sie ist eine Praxisform, die ihn aus der Natur herausgehoben hat, dadurch hat er seine Fähigkeiten und Sinne entwickelt. Deshalb ist die Arbeit der Ort, an dem der Mensch zu sich selbst kommt, seine höchste Befreiung. Die konträre Ansicht findet sich bei Platon und Aristoteles: Der Mensch ist genau in dem Maß ein Mensch, in dem er nicht arbeitet. Arbeit stigmatisiert, wer arbeitet, ist ein Sklave, kann niemals ein vollwertiger Bürger sein. Auch diese Idee hat einiges für sich: Arbeit leisten zu können, ist sicherlich eine Voraussetzung unseres Daseins, aber wir können noch viele andere interessante Dinge tun. Man sieht oft beide Auffassungen miteinander verquickt. Im 18. und 19. Jahrhundert sagen Leute aus der utopischen Bewegung des Kommunismus und Sozialismus: Der Mensch muss arbeiten, in der Zukunft wird es keine Parasiten mehr geben, keine Aristokraten, keinen Klerus. Liest man weiter, kommt der Gegenton: Arbeit ja, aber möglichst wenig, wir werden Maschinen erfinden, damit sich die Menschen auf das Wesentliche konzentrieren können.

Ökonomisch steuern die Industriegesellschaften auf die Befreiung von der Arbeit zu: Die Arbeit verschwindet.

Ungewollt. In den Sechzigerjahren hatte man in der japanischen Autoindustrie die Idee, die unbemannte Fabrik zu organisieren. Wenn man das Übertriebene abzieht, sieht man, dass dieser Prozess wirklich stattfindet. Die Produktivität eines Arbeiters in Frankreich oder Deutschland hat sich in den letzten vierzig Jahren verdoppelt. Wir stellen, wie es sich Aristoteles einst mit Sklaven ausmalte, ein Paralleluniversum neben unsere Welt, in der Roboter alle benötigten Waren herstellen. So weit sind wir nicht, aber wir müssen Lösungen erarbeiten für den Fall, dass dieser Ozean an frei verfügbarer Zeit auf uns zukommt. Das hat die Aristokraten im 18. Jahrhundert umgetrieben: die unendliche Langeweile, auf den nächsten Reiz warten, auf das nächsten höfische Fest, den nächsten Skandal.

Was halten Sie von diesem Zitat: „Niedrige Arbeitskosten, ein flexibler Arbeitsmarkt, ein vernünftiges Steuersystem und deutlich weniger Bürokratie: All das wird uns helfen, unsere Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern“?

Die letzten beiden Punkte – Steuersystem und Bürokratieabbau – würde ich ernsthaft diskutieren. Aber das sind in dieser Viererkette nur die Notbehelfe, um einer Politik der billigen Arbeit und der sozial ermäßigten Standards das Wort zu reden.

Das Zitat stammt von Horst Köhler, aus seiner Grundsatzrede vom 15. März.

Seine Losung „Vorfahrt für Arbeit“ ist nicht nur wenig orientierend für die Zukunft, ich halte sie für eine ökonomische Dummheit.

Das Gespräch führte Christian Schröder – Wolfgang Engler stellt am Mittwoch, 20 Uhr, im Literaturforum im Brecht-Haus, Berlin-Mitte, sein Buch vor.

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