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Kultur: Die vierte Dimension

Warentest, nein danke: Warum wir eine ernsthafte und kunstvolle Literaturkritik brauchen

Wie gut sie sich wirklich kannten, ist ungewiss, begegnet sind sie sich öfter, jüdischer Herkunft beide, auch fast gleich alt: der 1867 geborene Alfred Kerr und die zwei Jahre jüngere Else Lasker-Schüler. Beide waren stadtbekannte Figuren der Berliner Boheme und emigrierten im selben Jahr: 1933, früh ahnend, was die Nazis an der Macht bedeuten würden. Weil sie Menschenkenner waren. Sie haben übereinander geschrieben. Alfred Kerr hat Lasker-Schülers Theaterstück „Die Wupper“ treffend „phantasto-naturalistisch“ genannt, sie, die wahrhaft schmeicheln konnte, wenn sie wollte, beneidete sein Haus, dafür, dass er in ihm wohne. „Über den Kurfürstendamm sehe ich ihn manchmal nach der Kolonie heimwärts gehen. Dort wohnt Alfred Kerr in einer Villa, die beneidet wird, sonst pflegt man die meisten Kolonisten wegen ihrer Villa zu beneiden. (.. .) Er träumt immer von seinem Bruder Heinrich Heine. Bald gleicht er ihm auf einen Nerv.“ Beide waren Porträt-Künstler, die Eigenheiten intuitiv erfassen und rasch skizzieren konnten. Sie hatten eine Vorliebe für starke Worte – aber auch für die ganz sanften, z.B. Herz. Sie pflegten einen apodiktischen Stil: etwas hinstellen, und indem man es einfach so hinstellt, behaupten, es sei so. Vielleicht ist das die Prosakunst, die sich aus der Leidenschaft für Theater und Lyrik mischt. Verknappung und Vergegenwärtigung, immer in Beziehung gesetzt zum Bild des Menschen.

Alfred Kerr war ein Expressionist avant la lettre, auch wenn er später gegen den Expressionismus gewettert hat, dessen Vorläufer zu sein er sich gleichwohl rühmte. Er schrieb bildhaft und gefühlsstark. Jeder Satz eine Behauptung. Mit Nebensachen gab er sich so wenig ab wie mit Nebensätzen. Die Wirkung auf das eigene Innere war sein Maßstab. Er verfeinerte und dynamisierte diese Methode zu immer stärkerer Lebhaftigkeit; bis in einer „Woyzeck“-Kritik aus dem Jahr 1921 fast nur noch Ausrufezeichen, Fragezeichen und Auslassungspunkte übrig blieben: eine virtuose Imitation und Überbietung der Sprachlosigkeit des geschundenen Helden.

Sein vermutlich berühmtester Satz wird gern von Kritikern zitiert: „Fortan ist zu sagen: Dichtung zerfällt in Epik, Lyrik, Dramatik und Kritik.“ Die Aufwertung der Kritik zur Kunstform, das ist Balsam für die Rezensentenseele! Und hat er nicht recht? Der Kritiker ist ja ein Zwitterwesen, Diener zweier Herren, des Journalismus, also des Tagesgeschäfts, und der Literatur, die dauern soll, wenn sie gut ist und ihren Namen verdient. Und er ist oft genug in einer Zwangslage: Einerseits muss er das Medium bedienen und der Beschleunigung des Buchmarkts gerecht werden, andererseits muss er seinem Gegenstand gewachsen sein. Wenn er also allzu lange an seinen Texten feilt, ist er bald raus aus dem Geschäft. Schreibt er aber zu nachlässig, allzu geschwind, droht ihm ein vielleicht noch schlimmeres Schicksal. Er verrät seinen Gegenstand an den Markt, statt dafür zu sorgen, dass im öffentlichen Raum etwas vorkommen kann, was immer mehr an den Rand gedrängt wird: das klug ausgewählte und genau gesetzte Wort, die Beherrschung der Syntax, das Spiel mit Rhythmus, Ton und rhetorischen Figuren; kurz, die Kunst der Differenzierung in allen sprachlichen Belangen. Und dabei geht es nicht nur um Sprache. Es geht um mehr. „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“, das berühmte Diktum Ludwig Wittgensteins trifft die Sache genau. Wer seine Sprache erweitert, der erweitert auch seine Welt, und er schult die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen, sich etwas vorzustellen, was jenseits der eigenen Erfahrung liegt und ihn doch, in dieser oder jener Form, treffen könnte. Ist Literatur im emphatischen Sinne nicht immer auch Seelenkunst? Liegt nicht ihre Besonderheit darin, dass sie uns Einblick in andere Innenwelten gewährt? Welten also, die uns sonst verschlossen blieben und die sich höchstens, wenn es gut geht, in der Liebe auftun.

Das Feld der Literatur ist so offen wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Dogmen sind verschwunden. Aufarbeitung der Vergangenheit, Avantgarde, Politisierung, neue Subjektivität, Postmoderne, das sind Schlagworte, die der Vergangenheit angehören. Es klingt pathetisch, doch sei die These gewagt, dass sich die Literatur wieder der Existenz zuwenden wird und bereits im Begriff ist, das zu tun. Nicht mehr das einzelne leidende Ich und auch nicht die Gesellschaft stehen im Zentrum, sondern das immer schwieriger werdende Miteinander von Menschen, die sich selbst jede Form und jede Regel abtrainiert haben.

Wenn Sie auch nur einen gelegentlichen Blick in Nachmittags-Talkshows werfen, wissen Sie, wovon die Rede ist. Es kann einem angst und bange werden, wenn man sieht, wie dort Menschen aus ihrer Privatheit heraustreten und wegen ein paar Minuten öffentlicher Aufmerksamkeit ihr Leben, ihre Lieben, ihre Seele verkaufen. Wo jedes Gespür für Intimität verloren geht, da schlägt die Stunde der Literatur. Denn sie ist der einzige Ort, wo das Intime öffentlich – oder vielleicht sollte man besser sagen: halböffentlich – zur Sprache kommen kann, ohne zerstört zu werden.

Das liegt an zweierlei: an ihrer Schriftlichkeit und an ihrer Abgeschiedenheit, die konstitutiv ist für den Produktions- und den Rezeptionsprozess. Die Schrift erlaubt wie kein anderes Medium das Spiel mit Nähe und Distanz. Sie lässt den Phantasien Raum, den der Autor eröffnet und der Leser betritt, und, indem er ihn betritt, verändert. Beim Lesen sind wir allein und zugleich in bester Gesellschaft: wir spielen mit den Phantasmen eines anderen, als wären es die unseren. Und während des Lesens, auch das ist wichtig, zoomt keine Kamera auf unser Gesicht, niemand will unsere Gefühlsregungen sehen, sie gehören uns – und haben doch einen Bezug zum anderen. Zum Autor, der sich all das ausgedacht hat oder genauer: zum Bild, das wiederum wir uns von ihm machen.

Es muss mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben, und doch brauchen wir es. Man mache nur die Probe aufs Exempel und stelle sich vor, einen computergenerierten Roman zu lesen. Ein Problem im Übrigen, an dem die avantgardistische Literatur gescheitert ist, weil sie eben jenen Spielraum der Fantasie kassieren wollte, zugunsten einer Beschäftigung der Sprache mit sich selbst. Die Sprache als solche interessiert uns nicht, es ist immer die Sprache des anderen, die uns etwas sagen und bedeuten kann.

Autor und Kritiker arbeiten am selben Projekt. Sie sind aufeinander angewiesen. Auch wenn manch ein Autor seine Kritiker gern auf den Mond schießen würde: Ohne den öffentlichen Diskurs über Literatur könnte sein Werk nicht wirken. Der Kritiker ist kein Empfehlungs- oder gar ein Warnonkel, der die Leserschar zum richtigen Buch lenkt oder vom falschen abhält. Seine Aufgabe ist vielmehr, den Resonanzraum für Literatur immer wieder herzustellen und offen zu halten. Da kommt ihm sein Zwitterwesen gerade recht. Denn im Tagesgeschäft des Journalismus besetzt er die Rolle desjenigen, der daran erinnern darf, dass Schreiben Zeit braucht. Er stellt Zusammenhänge her, zu früheren Werken des Autors und zur Tradition, er kontrastiert und unterscheidet, spürt neue Themen und Schreibweisen auf. Er sorgt dafür, dass die Literatur im Gespräch bleibt, und zwar in ihrem eigenen Medium, der Schrift.

Alfred Kerrs in der Tradition der Romantik stehende Erhebung der Kritik zur Kunstform sollte man deshalb nicht als Eitelkeit missverstehen. Ganz im Gegenteil. Sie nimmt den Kritiker in die Pflicht und sorgt dafür, dass die Kritik nicht zum Geschwätz verkommt.

Meike Feßmann schreibt für den Tagesspiegel und die „Süddeutsche Zeitung“. Sie erhielt den seit 1977 jährlich vom Börsenblatt des deutschen Buchhandels verliehenen Alfred-Kerr-Preis im „Berliner Zimmer“ auf der Leipziger Buchmesse.

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